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# taz.de -- Formal radikaler Aussteigerroman: Das wilde Leben im Nordosten
> Thomas Kunst hat eine vertrackt versponnene Aussteigergeschichte
> geschrieben. „Zandschower Klinken“ beschwört eine renitente
> Provinz-Identität.
Bild: Schreibt über einen melancholischen Antihelden: Thomas Kunst
Solche Karrieren gibt es im Literaturbetrieb immer seltener: Viele Jahre
hat der 1965 in Stralsund geborene Schriftsteller Thomas Kunst in
mittelgroßen und kleineren Verlagen veröffentlicht. Seine Gedichtbände und
Romane, die immer schon literarische Wagnisse eingingen, waren nur einem
kleineren Publikum bekannt.
Mit seinem viel gelobten Gedichtband „Kolonien und Manschettenknöpfe“ darf
er sich seit 2017 [1][Suhrkamp-Autor nennen], was angesichts seiner
artifiziellen Werke fast schon wie eine unglaubliche Aufstiegsstory klingt.
Wahrscheinlich konnte sein neuer Roman „Zandschower Klinken“ tatsächlich
nur in diesem Publikumsverlag erscheinen, der noch immer auch literarische
Experimente ermöglicht.
Der Einstieg in diesen unkonventionellen Roman aber wirkt auf den ersten
Blick nahezu klassisch. Ein seltsamer Typ namens Bengt Claasen hat viel
erlebt. Er war Lektor, Hundetrainer und Taxifahrer in Kolumbien. Zuletzt
hat er sich um die demenzkranken Eltern gekümmert. Eine große Liebe
zerbrach, und einem geliebten Vierbeiner war auch nicht mehr zu helfen.
Jetzt möchte der dichtende Phantast ein neues Leben beginnen, in dem andere
Regeln gelten, am liebsten alles auf den Kopf gestellt wird.
Der Versuch, doch noch eine bürgerliche Existenz aufzubauen, ist jedenfalls
gescheitert: „Bengt Claasen hielt die Stellenangebote in seiner Region für
beleidigende Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den poetischen Bemühungen
seiner dünnhäutigen, aber leidlich unakademischen Biografie. Wenn er das
schon hörte und las. Sie bringen mit. Hierüber sollten sie verfügen. […]
Claasen musste sich schleunigst um eine neue Vergangenheit kümmern, wenn er
es im Leben noch zu etwas bringen wollte.“
So macht sich der melancholische Antiheld auf die Suche nach einem Leben,
in dem die Schönheit der Fiktion zumindest zeitweilig über die raue
Wirklichkeit siegen kann. Er fordert das Schicksal heraus, und das Halsband
der verstorbenen Hündin soll ihm als Orakel dienen. Er fährt los, und zwar
nicht schnell, sondern ganz besonders langsam.
## Provokation für Autofahrer
Claasen ist eine rollende [2][Provokation für alle anderen
Verkehrsteilnehmer], die sich wahrscheinlich noch mehr aufregen würden,
wenn sie wüssten, warum dieser Kerl so gemächlich über die A 2 tuckert:
„Claasen hat sich vorgenommen, sein Auto so vorsichtig, langsam und
gleichmäßig zu bewegen, dass das Halsband so lange wie möglich auf dem
Armaturenbrett liegen bleibt. An der Stelle, an der es herunterfällt, will
er anhalten und ein neues Leben beginnen.“
Als das Halsband auf die Fußbodenmatte fällt, führt die Ausfahrt nach
Zandschow. Ein seltsames Dorf in der nordostdeutschen Provinz. Auf der
Landkarte wird man dieses Kaff nicht finden.
Für Claasen ist es sofort ein Sehnsuchtsort, zumal ihm vieles bekannt
vorkommt. Ein Feuerlöschteich im Zentrum. Wohncontainer. Apfelbäume. Und
ein Getränkeshop, in dem exotische Biere im Regal stehen. Kuriose Leute wie
die Gebrüder Grabosch sitzen tags wie nachts am Teich, den sie einen Ozean
nennen. Die Menschen haben die große, weite Welt nach Zandschow geholt. Sie
feiern ausgelassene Feste, zelebrieren Festspiele, die aus Funk und
Fernsehen bekannt sind.
## Bizarre Rituale mit Plastikschwänen
Manchmal erfinden sie auch bizarre Rituale: „Zwanzig Zandschower setzen an
der Küste zwanzig identische Plastikschwäne aus und übernehmen zwei Stunden
lang die Patenschaft über sie, indem sie sich an Land bewegen wie die Tiere
auf dem Wasser.“
Die Welt, in der Bengt Claasen sich nun heimisch fühlt, ist so verrückt wie
lustig, so utopisch wie real. Vieles findet in „umgekehrter Reihenfolge“
statt. Was auch immer das im Einzelfall heißt.
In Zandschow ist jedenfalls alles wahrhaftig und metaphorisch zugleich. Das
beginnt schon beim Ortsnamen, in dem düstere Seiten der
Menschheitsgeschichte eingeschrieben sind. Die Zandsch waren schwarze
Sklaven, die aus Ostafrika verschleppt wurden und im heutigen Irak in den
Salzsümpfen schuften mussten. Zandschow ist damit auch als eine Art
Sansibar zu verstehen, nur dass von der ostdeutschen Trauminsel, die Thomas
Kunst beschreibt, keine Sklaven mehr in Richtung Arabien verschifft werden.
## Widerständige und Träumer
Hier haben sich Widerständige und Träumer versammelt, die dem Materialismus
und der Perfektion abgeschworen haben: „Wir erfinden eine Dynastie der
Fehlbarkeit. Wir lassen mit einem Gedicht die Mittagspause der Regierung
ausfallen. Wir sind noch nicht so weit. Wir lieben Rachefilme auf dem
Lande. Wir verachten Liebesfilme in den Städten. Wir haben Grund zu der
Annahme, dass unser Dasein nicht ernst genommen wird.“
Es ist kein Zufall, dass die Zandschower in ihrer renitenten
Provinz-Identität auch an Frankreichs Gelbwesten erinnern und das grelle
Cover des Buchs dementsprechend eingefärbt ist. Der selbstbewusste
Regionalbezug, der sich doch internationalistisch gibt, spiegelt sich auch
in dem zweiten, nicht minder sonderbaren Titelwort.
Mit den Klinken sind nicht nur die Türgriffe gemeint, die den Eintritt in
die Zandschower Anderswelt ermöglichen. Der Begriff spielt auch auf ein
bekanntes Kliff an, nämlich die Wissower Klinken auf der Insel Rügen, eine
monumentale Kreideformation, die mittlerweile ins Meer gestürzt ist.
## Streckenweise rätselhaft
Das alles wird in dem streckenweise rätselhaften Roman übrigens nicht
explizit erklärt. Denn das Literarische ist ja hier die neue Realität. Wenn
die Zandschower meinen, ihr Feuerlöschteich sei ein großes Meer und ein
paar Steinbrocken seien eine imposante Küste, dann handelt es sich durchaus
um eine längst realisierte Zukunftsvision, die mittlerweile Neid, Missgunst
und sogar Hass heraufbeschwört: „Die gloriosen Verheißungen vom Leben auf
dem Lande. Freund und Genussfähigkeit, die sich auf Armut und Phantasie
gründen, werden als gesellschaftliche Gefahr eingestuft.“
Der große Witz dieses in jeder Hinsicht radikalen Romans ist nun, dass
Thomas Kunst für die Geschichte seiner anarchistischen Landkommune eine
passende Sprache gefunden hat, nämlich einen so wilden Stil, der ebenfalls
mit jeder Erzählkonvention bricht. Mal ist der Text in der ersten,
zwischendurch in der zweiten, dann wieder in der dritten Person gehalten.
Singular und Plural wechseln sich ständig ab, als gehöre das Individuum,
das berichtet, auch formalästhetisch zu einem Kollektiv. Mal gibt es eine
personale, dann wieder eine auktoriale Erzählperspektive.
Auch die Textformen ändern sich ständig. Rückblicke auf Claasens
Familiengeschichte wechseln sich mit Reiseerinnerungen ab. Nüchterne
Bildbeschreibungen folgen wahnwitzigen Tagebucheinträgen. Mal handelt es
sich um ein literarisches Roadmovie, dann wieder um einen musikpoetischen
Monolog. Motive und Sätze werden – wie in einer barocken Partitur – ständ…
wiederholt und variiert. Die Sprache entwickelt zuweilen ein Eigenleben,
scheint sich vom Autor emanzipiert zu haben.
## Brüderchen und Schwesterchen
Kaum hat man den Eindruck, eine Reprise sei nur zufällig gesetzt, kommt der
Schriftsteller mit einer weiteren, durchaus wichtigen Wendung um die Ecke.
Der Roman ist auch als eine Neuformulierung von „Brüderchen und
Schwesterchen“ zu lesen, dem Märchenklassiker der Brüder Grimm. Darin wird
das Brüderchen, das von einer verhexten Quelle trinkt, in ein Reh
verwandelt.
Wenn Bengt Claasen über seine Familie nachdenkt, das innige Verhältnis zur
Mutter und die Kälte des Vaters zu ergründen versucht, kommen noch andere
Märchen ins Spiel, die von Verwandlungsängsten und Erlösungsträumen in
schwierigen Eltern-Kind-Konstellationen handeln und die immer auch ein
Ursprung für die Literatur sind: „Du hast aus mir mit deiner ungezügelten
Liebe ein außerordentliches Reh gemacht. […] Kein Vater, der meine
Zeugnisse oder Inlandseinsatze an der Küste kontrollierte. Bis ich sechzehn
war, habe ich mit Indianern gespielt, in den Gebirgen umgekippter Sessel,
in den getrockneten Flussläufen von Blechautobahnen und
Teppichverwerfungen. Mit siebzehn war ich das erste Reh in Norddeutschland,
das Gedichte schreiben wollte.“
## Lustvolle Überforderung
Die Schönheit dieses Romans besteht also in der lustvollen Überforderung.
Thomas Kunst hat mit „Zandschower Klinken“ ein Werk vorgelegt, das so viele
Verweise und Zitate verarbeitet, dass es einem schwindelig werden kann und
soll. Der Dichter und Romanautor ist ein Wort- und Ideensammler, der
Sporthistorie mit Musikgeschichte verschränkt und mediale Ereignisse in der
DDR mit aktuellen Diskursen kombiniert.
Vor allem aber propagiert er ein Reich der literarischen Freiheit, in dem
der ästhetische Glutkern nicht mit zwei, drei Hinweisen erklärt oder
interpretiert werden kann. Thomas Kunst ist ein furchtloser Außenseiter im
hiesigen Literaturbetrieb, ein Berserker der fantasievollen Zärtlichkeit.
15 Feb 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Carsten Otte
## TAGS
Literatur
Provinz
Roman
Literatur
deutsche Literatur
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