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# taz.de -- Eskalation in Nahost: Aufstand der Mitbürger
> Israels Palästinenser solidarisieren sich mit dem Widerstand in den
> besetzten Gebieten. Dabei kämpfen sie auch um ein neues
> Selbstbewusstsein.
Bild: Im Libanon lebende Palästinenserin mit palästinensischer Gesichtsbemalu…
Während diese Zeilen verfasst werden, fliegt die israelische Armee
erbarmungslos Luftangriffe auf Gaza, und [1][US-Präsident Joe Biden hat
nichts Besseres zu tun, als sich voller Überzeugung zum
Selbstverteidigungsrecht Israels zu bekenne]n. Biden ist nicht der erste
US-Politiker und wird auch nicht der letzte sein, der das Recht Israels
unterstützt, sich auf jedwede Weise zu verteidigen.
Das Problem ist allerdings nicht nur das grüne Licht, das Biden
Regierungschef Benjamin Netanjahu für das Massakrieren der Palästinenser
signalisiert, sondern es ist die Botschaft, die sich dahinter verbirgt und
die lautet, dass das Leben der Palästinenser im Vergleich zum Leben von
Juden wertlos ist. Die irrige Botschaft lautet, dass dieser Konflikt
politisch und militärisch symmetrisch ist.
Die Palästinenser, die [2][bei den Bombenanschlägen der israelischen
Luftwaffe getötet] wurden, werden von Israels Verteidigungsarmee als
wörtlich „Nebenschaden“, definiert, gemeint ist Kollateralschaden, der als
legitimer Preis für die Verteidigung Israels gilt. Weder Biden noch die
westlichen Mainstream-Medien machen sich die Mühe nachzufragen, was seit
1948 im Ostjerusalemer Viertel Scheich Dscharrah, in Galiläa oder im Negev
geschieht.
Die [3][Zwangsräumungen in Ostjerusalem] sind ein Schritt zur ethnischen
Säuberung der Stadt. Der Kampf der um ihre Häuser bangenden Bewohner ist
der Kampf aller Palästinenser, egal wo sie leben. Und doch stellt sich die
Frage, wie ein im Kern nationaler Kampf so plötzlich zu einem religiösen
Kampf wurde. Warum rückte al-Aqsa in den Mittelpunkt? In Scheich Dscharrah
geht es um einen politischen und nationalen Kampf, keinen religiösen.
Ein kluger Mensch hat offenbar verstanden, dass die klassische
palästinensische Geschichte, die der Welt einmal mehr das palästinensische
„Opfer“ vorführt, nicht ausreicht. Und dass sich die Welt, wenn sie nochmal
zusehen muss, wie eine palästinensische Familie aus ihrem Haus vertrieben
wird, kaum solidarisch zeigen wird. Dieser kluge Mensch trieb eine
Religionisierung des Kampfes voran. An die Stelle von ethnischer Säuberung
und Besatzung trat der Kampfruf „Al-Aqsa ist in Gefahr“.
Auch, wenn es mir überhaupt nicht zusagt, wenn der politische
palästinensische Kampf religionisiert wird, muss ich zugeben, dass das
taktisch ein genialer Zug war, um Zigtausende junge Muslime aus ihrem
Winterschlaf zu wecken und für [4][Solidaritätskundgebungen] zu
mobilisieren. Die Religionisierung des palästinensischen Kampfes ist jedoch
hauptsächlich aus zwei Gründen fatal: Erstens ist der palästinensische
Konflikt mit dem Staat Israel kein religiöser.
Die Palästinenser haben kein Problem mit dem Judentum der Bürger Israels,
sondern die Palästinenser haben ein Problem mit der „Jüdischkeit“ des
Staates. Zweitens kann al-Aqsa nicht die einzige Komponente sein, die
Palästinenser und Araber im Kampf für die palästinensische Selbstverwaltung
vereinen wird! Nicht al-Aqsa ist in Gefahr, sondern Jaffa, Lod, Haifa und
der Negev sind in Gefahr, palästinensische Kinder, Studenten und
palästinensisches medizinisches Personal sind in Gefahr!
Nicht weniger interessant als die Religionisierung des Konflikts ist der
Blick auf die Palästinenser, die in Israel geboren wurden. Diese neue
palästinensische Generation riss die physischen Grenzen zwischen dem
Westjordanland und den palästinensischen Ortschaften in Israel ein und kam
zu Tausenden nach Ostjerusalem, um dort zu protestieren.
Die riss aber vor allem auch die emotionalen und psychologischen Barrieren
ein, die sie von den jungen Palästinensern im Westjordanland und im
Gazastreifen trennten. Die Palästinenser, die in den 2000er Jahren in
Israel geboren wurden, entwickelten eine Solidarität mit ihren
palästinensischen Brüdern im Westjordanland und im Gazastreifen. Mehr noch:
Sie haben die palästinensische Identität, die von der Besatzung und ihren
Waffen unterdrückt wurde und als Schande galt, zur Quelle des Stolzes
gemacht.
Diese neue palästinensische Generation schaffte es, sich aus der Identität
des Opfers zu lösen, weil sie von der systematischen, rassistischen,
institutionellen israelischen Gewalt verschont geblieben ist. Verhaftungen,
geheimdienstliche Verhöre und Folter haben dieses Bewusstsein noch nicht
zerstört. Diese jungen Menschen haben gerade die Schule abgeschlossen.
Sie sind noch nicht auf dem Arbeitsmarkt oder an den Universitäten
angekommen, haben aber im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern schon
kapiert, dass auch die beste akademische Bildung, keine Karriere oder ein
noch so hohes Einkommen der Besatzung ein Ende machen wird, das historische
Unrecht richten oder sie zu gleichberechtigten Bürgern machen wird.
Sie haben kapiert, dass ihr Schicksal dasselbe sein wird wie das ihrer
Eltern und Großeltern und dass sie die alltäglichen Erniedrigungen und
Ungerechtigkeiten schlucken sollen, um die Illusion der einzigen Demokratie
im Nahen Osten zu leben. Genau dagegen wehren sie sich: Sie weigern sich,
diese Illusion zu akzeptieren, mit ihr zu kooperieren und sie fortleben zu
lassen. Sie rebellieren gegen das national minderwertige defätistische
Bewusstsein.
Damit stoßen sie auf breite internationale Solidarität. Und damit sind sie
in Israel brutaler Gewalt seitens des Sicherheitsapparates ausgesetzt.
Verhaftungen und gewaltvolle Verhöre des inländischen Geheimdienstes zielen
darauf ab, ein Trauma zu erzeugen, das dieses rebellisch-kämpferische
Bewusstsein erzittern lässt.
Die staatliche Brutalität wie auch der breite israelische Zorn auf der
Straße gegen den Aufstand der jungen Palästinenser zielt auf ihre
Verweigerung, die jüdischen „Herren“ anzuerkennen, und ihre Verweigerung,
ihre Rolle als Verlierer, die national unterlegen sind, zu akzeptieren.
20 May 2021
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## AUTOREN
Rajaa Natour
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