# taz.de -- Marokkaner erreichen spanische Exklave: Die Gendarmerie schaut tate… | |
> Marokko lässt 6.000 Migranten schwimmend die Grenze zur spanischen | |
> Exklave Ceuta passieren. Rabat will damit Madrid unter Druck setzen. | |
Bild: Nach Europa schwimmen: Ankunft von Marokkanern in Ceuta am Dienstag | |
MADRID taz | So etwas hat selbst Spanien als Außengrenze der Europäischen | |
Union (EU) noch nicht gesehen. Seit Montag gelangten mehr als 6.000 | |
Marokkaner in die spanische Exklave Ceuta an der Küste Nordafrikas. Sie | |
[1][umschwimmen] ganz einfach die beiden Grenzbuhnen und somit den | |
Grenzzaun in Benzú im Westen und Tarajal im Osten der Stadt und gelangen so | |
an die Strände von Ceuta. | |
Die Grenzpolizisten der marokkanischen Gendarmerie, die normalerweise den | |
Zugang zu den nächsten Stränden Marokkos und damit zu den Buhnen | |
verhindern, schauen tatenlos zu. So viele Menschen wie am Montag und | |
Dienstag kamen noch nie in so kurzer Zeit in Spanien an, weder in Ceuta und | |
Melilla, noch auf den Kanarischen Inseln oder an der südspanischen Küste. | |
Als handle es sich um eine sportliche Großveranstaltung, bilden sich immer | |
längere Schlangen, um nach Ceuta zu gelangen. Die spanische Polizei mit | |
ihren Hubschraubern, die Spezialeinheiten der Guardia Civil und die voll | |
bewaffneten Soldaten der Legion mit ihren Schützenpanzern können die | |
Menschen nicht aufhalten. | |
Viele von ihnen sind junge marokkanische Männer. Doch kommen auch immer | |
wieder ganze Familien, manche mit Kleinkindern und selbst mit Babys. 1.500 | |
derer, die nach Ceuta gelangten, sind, so erste Schätzungen der Behörden, | |
unbegleitete Minderjährige. Mindestens ein Immigrant kam beim Versuch, | |
Ceuta schwimmend zu erreichen, ums Leben. | |
## Unterbringung in einem Fußballstadion | |
In Ceuta droht droht die Verbringung in ein Fußballstadion, das zum | |
Notlager umfunktioniert wurde. Ein Auffanglager für Minderjährige in einer | |
Lagerhalle am Tarajal ist nach Angaben des Roten Kreuzes völlig überfüllt. | |
Überall in der 85.000 Einwohner zählenden Stadt ziehen Gruppen von | |
Marokkanern umher, suchen einen Platz zum Schlafen oder bitten um Essen. | |
Wer sich auskennt, versucht sich zum Stadtteil El Principe durchzuschlagen. | |
Dort lebt eine meist arabischstämmige Bevölkerung. | |
Der spanische Innenministerium verhandelt mit den Behörden in Rabat unter | |
Hochdruck. Sie wollen versuchen, dass Marokko die Immigranten zurücknimmt, | |
so wie es ein Abkommen von 1992, das seit 2012 mal mehr, mal weniger | |
umgesetzt wird, vorsieht. | |
Tatsächlich habe Marokko, so verkündete am Dienstag Innenminister Fernando | |
Grande-Marlaska, 2.700 Immigranten zurückgenommen. Zudem bewilligte Madrid | |
der marrokanischen Regierung 30 Millionen Euro, um die illegale Einreise | |
nach Spanien zu stoppen | |
## Spaniens Ministerpräsident reist nach Ceuta | |
Sowohl der Präsident der autonomen Stadt Ceuta, Juan Vivas, als auch der | |
spanische Regierungschef Pedro Sánchez haben angesichts der Lage jeweils | |
Dienstreisen abgebrochen. „Mein vorrangiges Ziel ist es, die Normalität in | |
Ceuta wieder herzustellen“, erklärte Sánchez am Dienstagvormittag auf | |
Twitter, bevor er nach Ceuta flog, um sich selbst ein Bild von der Lage zu | |
machen. | |
Bereits zuvor war die Legion ausgerückt und die Verlegung von 300 | |
Polizisten nach Ceuta angeordnet worden. Die Kritik der konservativen | |
Opposition, Sánchez würde nichts tun, sowie der Ruf der rechtsextremen VOX | |
nach einem Einsatz der Armee liefen damit ins Leere. | |
Doch warum schauen Marokkos Grenzschützer untätig zu? Die Antwort ist für | |
alle spanischen Medien klar, egal welcher Couleur: Der Ansturm sei die | |
[2][Reaktion Marokkos], „nachdem das Land seine Proteste wegen der Aufnahme | |
des Führers der Polisario verstärkt hat“, schreibt etwa die größte | |
Tageszeitung, El País. | |
## Vergeltung für Krankenhausaufenthalt? | |
Es geht um den Chef der Befreiungsbewegung für die Westsahara und | |
Präsidenten der in Flüchtlingscamps in Algerien ansässigen sahrauischen | |
Exilregierung, Brahim Ghali. Seit Mitte April liegt der 73-Jährige in einem | |
Krankenhaus in Nordspanien. Er wird dort auf Bitte Algeriens gegen Covid-19 | |
behandelt. | |
Ghali ist für die Regierung in Rabat und Marokkos König Mohammed VI. der | |
Staatsfeind Nummer 1. Rabat hält die frühere spanische Kolonie Westsahara, | |
die zwischen Marokko und Mauretanien liegt, seit 1975 besetzt. Die | |
Vereinten Nationen versuchten bisher vergebens ein Referendum über | |
Unabhängigkeit oder Anschluss an Marokko abzuhalten. | |
Ein seit 1991 gültiger Waffenstillstand zwischen Polisario und Marokko | |
wurde von der Befreiungsbewegung im November gebrochen. Seither herrscht | |
wieder [3][Krieg]. | |
Als Madrid die Einreise des Polisario-Chefs Ghali genehmigte, drohte | |
Marokko ganz unumwunden mit Repressalien. Am 26. April gelangten erstmals | |
128 junge Menschen schwimmend nach Ceuta. Anders als bei früheren | |
[4][Massenanstürmen auf den Grenzzaun] in Ceuta und den der zweiten | |
Exklave, Melilla, von wo jetzt auch einige Grenzübertritte gemeldet | |
wurden, waren es keine Schwarzafrikaner, sondern alles Marokkaner. | |
## Innenpolitischer Druck | |
Das ließ schon damals den Verdacht aufkommen, Marokko schaue einfach weg. | |
Bei der Aufnahme Ghalis handle es sich „lediglich um eine humanitäre | |
Angelegenheit“, erklärte am Montag zum wiederholten Mal Spaniens | |
Außenministerin Arancha González Laya. Sie könne nicht verstehen, dass als | |
Antwort „das Leben von Minderjährigen auf See gefährdet wird, wie wir in | |
den letzten Stunden in Ceuta gesehen haben“. | |
Doch neben der Westsahara geht es Rabat auch um Ceuta und Melilla selbst. | |
Für Marokko sind es „besetzte Gebiete“. Mohammed VI. verlangt immer wieder | |
„die Rückgabe“ der Garnisonsstädte, die seit dem 15. Jahrhundert erst zu | |
Portugal und dann zu Spanien gehören, lange bevor es Marokko in seiner | |
heutigen Form überhaupt gab. Mit der Untätigkeit der Grenzpolizei erinnert | |
Rabat Madrid daran, wie prekär die Lage der Exklaven ist. | |
Doch Marokko will nicht nur Druck gegenüber Spanien aufbauen. Was dieser | |
Tage in Ceuta geschieht, ist auch ein Ventil, um sozialen Druck in Marokko | |
selbst abzulassen. | |
Seit Frühjahr 2020 hat Rabat als Anti-Covid-Maßnahme die Grenzen zu den | |
beiden Exklaven schließen lassen. Dies hat schwere wirtschaftliche Folgen | |
für die umliegenden Dörfer und Städte. | |
## Grenzschließung 2020 führte zu Protesten | |
Tausende Marokkaner arbeiten normalerweise in den spanischen Exklaven. Und | |
über 10.000 – meist Frauen – schaffen auf ihrem Rücken riesige Bündel mit | |
allerlei Waren Tag für Tag von Ceuta und Melilla nach Marokko. Insgesamt | |
soll dieses Importgeschäft jährlich rund eine Milliarde Euro umfassen. | |
Im Februar kam es an vier Freitagen in Folge in Fnideq, der marokkanischen | |
Nachbarstadt von Ceuta, zu Demonstrationen gegen die Grenzschließung. „Was | |
für eine Schande! Ihr habt Fnideq ermordet!“, richteten sich die | |
Protestierenden an die marokkanische Regierung. | |
18 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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