# taz.de -- Auseinandersetzungen in Israel: Häuserkampf in Jerusalem | |
> In einer Straße in Ostjerusalem wohnen Juden und Araber Tür an Tür. Beide | |
> beanspruchen das Viertel für sich – und sind bereit, dafür zu kämpfen. | |
Bild: Muslime beim gemeinsamen Fastenbrechen in Sheikh Jarrah: Sie sind von Ent… | |
JERUSALEM taz | Vieles in der Othman-Ben-Afan-Straße im arabisch geprägten | |
Ortsteil Sheikh Jarrah in Ostjerusalem deutet auf einen idyllischen, heißen | |
Tag hin. Die Familien haben sich in ihre Häuser zurückgezogen, Katzen | |
liegen eingerollt unter schattenspendenden Zypressen und rot blühenden | |
Bougainvillea. | |
Nur die Polizeijeeps am Ende der Straße brechen das Bild – und ein Haus, | |
dessen Erscheinungsbild sich grundlegend von den anderen arabischen Häusern | |
unterscheidet: Zwei israelische Fahnen flattern auf dem Dach, ein blauer | |
Davidstern steht schief daneben. Die Fenster sind verrammelt, nur durch ein | |
grünes Gartentor kann man einen Blick in den Vorgarten erhaschen, eine | |
Kinderschaukel liegt auf einem Wellblechdach. | |
Eden Levi wohnt dort. Als er das Haus 2009 bezog, hatte er oben am Dach | |
einen aus der Tora stammenden Siedlerslogan aus Holzbuchstaben befestigt: | |
„Die Söhne sind zu ihren Grenzen zurückgekehrt“. Levi ist überzeugt, dass | |
sämtliche Häuser dieser Straße den Juden gehören – und dafür kämpft er. | |
„Wir haben Papiere“, sagt er. | |
Über seinen schwarzen langen Locken trägt der Siedler eine gehäkelte Kippa, | |
die Kippa der Nationalreligiösen. Auf seinem rechten Auge klebt ein weißes | |
Pflaster. Vor einigen Tagen habe ein Araber ihm hier in der Straße eine | |
Flasche ins Gesicht geschlagen. „Wir wollen in Frieden hier leben“, sagt | |
er, „wir haben nichts Schlechtes getan, wir wollen nur zurück in unsere | |
Häuser.“ | |
## Angst vor Vertreibung | |
Seit Tagen [1][spitzt sich die Lage in Jerusalem und anderen Teilen Israels | |
und Palästinas zu]. Nur einen Kilometer von Sheikh Jarrah entfernt, in | |
Jerusalems Altstadt, ist es auch am Montag wieder zu Zusammenstößen | |
zwischen palästinensischen Israelis, ultrarechten Jüdinnen und Juden und | |
der Polizei gekommen. Dabei geht es auch um ebendiese Straße in Sheikh | |
Jarrah, die für viele zu einem Symbol für die Vertreibung von | |
Araber*innen aus Jerusalem geworden ist. | |
Um den Konflikt zu verstehen, muss man in der Geschichte Israels und | |
Palästinas zurückgehen in das Jahr 1970. Damals entstand ein Gesetz, das | |
Jüdinnen und Juden berechtigt, Grundstücke in Ostjerusalem, die sie im | |
Krieg von 1948 verloren haben, zurückzuerhalten. | |
Dazu gehört auch das Land in Sheikh Jarrah, auf dem die Häuser von vier | |
Familien stehen, die nun von einer Zwangsräumung durch die israelischen | |
Behörden bedroht sind. Die jordanische Regierung, die die verlassenen | |
Grundstücke verwaltet hatte, überließ diese 1956 palästinensischen | |
Flüchtlingen. | |
Menschenrechtsvereine wie [2][die israelische Organisation Ir Amim] halten | |
das Gesetz für diskriminierend. Palästinenser*innen, die im heutigen | |
israelischen Gebiet Besitz verloren haben, hätten kein vergleichbares | |
Recht. „Die palästinensischen Israelis verlieren vor Gericht, weil das | |
Rechtssystem ihnen, anders als Juden, nicht die Möglichkeit gibt, zu sagen, | |
wir sind Flüchtlinge, wir haben Eigentum verloren“, erklärt Aviv Tatarsky | |
von Ir Amim. | |
## Ein klitzekleines Land | |
Ein ursprünglich für Montag angesetztes Gerichtsurteil zur Frage, ob die | |
vier von Zwangsräumung bedrohten Familien in Sheikh Jarrah Berufung vor | |
Israels Oberstem Gericht gegen eine frühere Entscheidung eines | |
Bezirksgerichts einlegen dürfen, wurde kurzfristig verschoben – angesichts | |
der explosiven Stimmung in der Stadt, die noch hätte angeheizt werden | |
können. Von einer Räumung bedroht sind aber noch weitere Familien, allein | |
75 in Sheikh Jarrah. | |
Levi, der Siedler, der in das Haus einer 2012 zwangsgeräumten Familie | |
gezogen ist, lässt das Argument seiner palästinensischen Nachbarn nicht | |
gelten. „Diejenigen, die damit einverstanden sind, dass dieses Land den | |
Juden gehört und dass wir dieses Land kontrollieren, sind willkommen“, | |
erklärt er. „Aber wenn sie uns umbringen und Probleme machen, was soll ich | |
da sagen?“ | |
Er hebt seine Arme: „Wir haben nur dieses klitzekleine Land. Die Araber | |
können dorthin zurück, woher sie gekommen sind. Nach Jordanien, nach | |
Ägypten, sie haben viele Länder.“ Was er davon halte, woanders hinzuziehen, | |
nach Westjerusalem beispielsweise? „Wer kämpft dann um dieses Land?“, ruft | |
er und zeigt auf seinen etwa einjährigen Sohn, der seinen Kopf durch das | |
Gartentor steckt. „Es steckt in meinem Blut und in dem Blut meines kleinen | |
Sohnes, für dieses Land zu kämpfen.“ | |
Auf der anderen Straßenseite öffnet eine ältere Frau ihr Gartentor, | |
schwingt ihre Faust und ruft etwas auf Arabisch. Drei Polizist*innen, ein | |
paar Meter weiter postiert, beobachten den Schlagabtausch, der sich | |
zwischen dem Siedler und der Frau entspinnt und nehmen Levi beiseite, | |
bitten ihn, nicht zu provozieren. Wie es seinem Auge gehe, fragt der | |
Polizist noch. „Wenn ihr etwas braucht, was zu essen oder Wasser“, sagt | |
Levi noch, „sagt Bescheid.“ Dann ziehen sich die Gesetzeshüter in ihren | |
Jeep zurück. | |
## Fastenbrechen mit Pfefferspray | |
Für Hassal Abu Hasna, deren Großvater 1956 in ihr Haus einzog, ist diese | |
Szene ein Beispiel für die Kooperation zwischen der Polizei und den | |
Siedler*innen. Im Ramadan sei das abendliche Fastenbrechen, wenn die | |
Familien der Straße an großen Tischen das Essen ausbreiten und | |
zusammensitzen, normalerweise festlich. In diesem Jahr jedoch wird es | |
gewalttätig, wenn die Sonne untergeht. „Die Siedler und die Polizei“, | |
berichtet Abu Hasna, „machen uns das Fasten nicht leicht. Sie attackieren | |
uns, reiten mit Pferden durch unsere Straße, besprühen uns mit | |
Pfefferspray.“ | |
Oft kommen jetzt zum Fastenbrechen Menschen von außerhalb, um die | |
palästinensischen Familien zu unterstützen. Die 23-Jährige lebt direkt | |
neben dem Haus der Siedler. „Ich erinnere mich noch an die Familie, die | |
vorher in dem Haus gewohnt hat. Als Kind habe ich mit ihren Kindern | |
gespielt.“ Eine Katze schlüpft durch das Gartentor von Abu Hasna. | |
„Vielleicht kann die internationale Gemeinschaft noch etwas an der | |
Situation ändern.“ | |
Auch Tatarsky von Ir Amim hofft darauf. Als die Nachbarn von Abu Hasna und | |
zwei weitere Familien 2012 geräumt wurden und Levi und die anderen | |
Siedlerfamilien einzogen, habe dies international einen Sturm der | |
Entrüstung ausgelöst und Israel unter Druck gesetzt, weitere Räumungen | |
auszusetzen. Unter dem vormaligen [3][US-Präsidenten Donald Trump jedoch | |
seien die Prozesse wieder in Gang gebracht] worden. | |
„Wir geben nicht auf“, sagt Abu Hasna, als sie ins Haus geht, um das | |
Fastenbrechen vorzubereiten. „Wir bleiben hier.“ Auch Levi hat sich wieder | |
in seinem Haus verbarrikadiert. In der Othman-Ben-Afan-Straße herrscht | |
wieder Ruhe. Vorerst. | |
10 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Israel-Palaestina-Konflikt/!5766296 | |
[2] https://www.ir-amim.org.il/en | |
[3] /Trumps-Nahostplan/!5468500 | |
## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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