# taz.de -- Historiker über Caritas-Gründer Werthmann: „Biografien als hist… | |
> Heiko Wegmann erforscht die Befürworter des Kolonialismus. Dabei stieß er | |
> auf Lorenz Werthmann. Dem ging es um die Christianisierung der | |
> Kolonialisierten. | |
Bild: Lorenz Werthmann (1858–1921) war Gründer der katholischen Hilfsorganis… | |
taz: Am 10. April ist der hundertste Todestag von Lorenz Werthmann, dem | |
Gründer des Deutschen Caritasverbandes. Die katholische Kirche würdigt ihn | |
als „Anwalt der Benachteiligten“. Ist das aus wissenschaftlicher Sicht | |
berechtigt? | |
Heiko Wegmann: Nicht uneingeschränkt. Bisher wird kaum darüber gesprochen, | |
dass Werthmann den [1][deutschen Kolonialismus] befürwortete. Der | |
konservative Sozialpolitiker war auch Migrationsexperte, hatte dabei aber | |
vor allem Deutsche im Blick, die ja massenhaft auswanderten. Mit der | |
Kolonialbewegung teilte er das Ziel, dass sie nicht dem „Deutschtum“ | |
verloren gehen sollten. Sie wollten die Migration in möglichst geschlossene | |
Gebiete lenken, idealerweise unter deutscher Herrschaft. Für Werthmann war | |
dabei zentral, dass die auswandernden Katholiken deutsch und katholisch | |
blieben. Außerdem eröffneten Kolonialreiche aus seiner Sicht bessere | |
Möglichkeiten, die Welt zu christianisieren. Hierbei hinkten die | |
katholischen Missionen den evangelischen aber zunächst hinterher. | |
Warum unterstützte Werthmann die Deutsche Kolonialgesellschaft? | |
Er wollte die „katholische Stimme“ in der Kolonialpolitik hörbarer machen. | |
Dazu nahm er am Deutschen Kolonialkongress 1910 im Reichstag teil. Sein | |
Caritasverband gehörte 1910 und 1924 zu den Mitveranstaltern. Er war auch | |
an kircheninternen Diskussionen beteiligt, etwa im Jahr 1912 an einer | |
Fachkonferenz des Missionsausschusses des Zentralkomitees der | |
Katholikenversammlungen Deutschlands. Bei den Referaten über sogenannte | |
„Rassenmischehen“ in deutschen Kolonien wurden Gleichheitsvorstellungen | |
ebenso wie Kolonialrassismus deutlich: Es hieß, die Bibel gelte für alle | |
Menschen, so wie sie vor Gott gleich seien. Formelle Verbote von | |
„Mischehen“ lehnte man also ab. Sie würden das „Zutrauen der schwarzen | |
Zöglinge“ und damit das Missionswerk stören. Katholische Geistliche seien | |
deshalb in Einzelfällen dazu gezwungen, in den Kolonien solche | |
Eheschließungen vorzunehmen. | |
Dennoch seien die Afrika-Missionen sich einig, dass „Rassenmischehen“ | |
unerwünscht seien. Sie täten alles, um sie zu verhindern. Bei der Konferenz | |
wurde sogar angeregt, die Kinder aus Beziehungen von weißen Männern und | |
schwarzen Frauen in Missionsschulen quasi zu internieren. Wegen ihres | |
weißen Elternteils seien sie intelligenter als Schwarze. Sie sollten von | |
der einheimischen Bevölkerung abgeschottet, christlich-deutschfreundlich | |
erzogen und zu einem „dienlichen“ Element der deutschen Herrschaft gemacht | |
werden. Werthmann war Schriftführer dieser Konferenz, deren Protokoll vom | |
Caritasverband publiziert wurde. Es ist davon auszugehen, dass er diese | |
Gedanken mittrug. | |
Welche Haltung nahm Werthmann im Ersten Weltkrieg ein? | |
Er formulierte als Kriegsziel die Vergrößerung des deutschen | |
Kolonialreiches auf Kosten der Kriegsgegner. Den „neu erworbenen | |
Untertanen“ sollten „die Segnungen des Christentums“ gebracht werden. Die | |
Kolonisierten wurden gar nicht erst gefragt. | |
Überdachte Werthmann seine Position, als die Siegermächte dem Deutschen | |
Reich 1919 die Kolonien wegnahmen? | |
Nein, da protestierte er laut. Die Deutschen hätten ein Recht auf ihre | |
Kolonien im Namen des „Kulturfortschritts“, der „Heidenbelehrung“ und d… | |
„Interessengemeinschaft der weißen Rasse“. Er referierte noch 1919 auf | |
einer Tagung der Kolonialgesellschaft zur Auswanderungsfrage. Eine Abkehr | |
kann ich nicht erkennen, allerdings schätzte er nun die Chancen auf | |
Rückgabe der Kolonien als schlecht ein. Zwischenzeitlich hatte er andere | |
Gebiete ins Auge gefasst, etwa im Baltikum. | |
Worum ging es dabei? Gibt es einen politisch-ideologischen Zusammenhang zum | |
deutschen Kolonialismus in Afrika? | |
Während des Ersten Weltkrieges gab es Pläne für die Germanisierung von | |
militärisch besetzten Gebieten im Baltikum. Das ist bislang wenig | |
erforscht, der Historiker Ron Hellfritzsch befasst sich damit nun im Rahmen | |
seiner Promotion. Organisatorischer Kern war die „Vereinigung für deutsche | |
Siedlung und Wanderung“. Werthmann gehörte 1916 zu den Gründungsmitgliedern | |
der Vereinigung. Neben radikalen Akteuren wie dem Alldeutschen Verband | |
beteiligten sich auch der Caritasverband und der Raphaelsverein zum Schutze | |
katholischer deutscher Auswanderer. | |
Meinungsführer der katholischen Stimme war [2][Clemens August von Galen, | |
der spätere Münsteraner Kardinal]. In Litauen und Teilen Lettlands sollte | |
eine deutsch-katholische, bäuerliche Gesellschaft unter Führung des | |
katholischen Adels entstehen. Das war ein Gegenentwurf zu | |
Demokratisierungstendenzen in der deutschen Heimat. Man träumte davon, dass | |
sich die Litauer freiwillig der „höherstehenden“ deutschen Kultur | |
unterordnen. Über die Frage, was mit dem jüdischen Bevölkerungsanteil | |
werden sollte, machten sie sich keine Gedanken. Noch im August 1918 reisten | |
Galen und Werthmann ins Baltikum, um den Weg zu ebnen. Die Litauer waren | |
aber nicht so beglückt, wie man sich das ausgemalt hatte. Galen kehrte | |
ernüchtert zurück, zumal er im Unterschied zu Werthmann Zwangsmaßnahmen | |
ablehnte. | |
Der Deutsche Caritasverband schweigt zu den deutschtümelnden und | |
prokolonialen Positionen Werthmanns. Ist ein solcher Umgang mit | |
problematischen Anteilen einer Gründerbiografie der Normalfall? | |
Ja. Heldengeschichten sind zugkräftiger als komplexe Darstellungen von | |
Verdiensten und Schattenseiten, insbesondere, wenn ein Verband auf | |
Zustimmung und Spenden angewiesen ist. Hinzu kommt, dass die [3][koloniale | |
Mentalität] lange als vernachlässigbar, weil historisch erledigt galt. | |
Was halten Sie von der verbreiteten Ansicht, Werthmann und vergleichbare | |
Personen müssten als „Kinder ihrer Zeit“ gesehen werden? | |
Zeitliche Kontextualisierung ist wichtig, darf aber nicht als Ausrede | |
benutzt werden, um Handlungs- und Denkspielräume zu verkleistern. | |
Werthmanns Zeitgenoss*innen war durchaus klar, auf welchen Widerstand | |
die Kolonisierung traf und welchen Blutzoll sie forderte. Der Katholik | |
Matthias Erzberger beispielsweise kritisierte die Missstände in deutschen | |
Kolonien scharf. | |
Als freiberuflicher Historiker untersuchen Sie auch andere Apologeten des | |
Kolonialismus wie zum Beispiel den Kolonialoffizier und späteren | |
SS-Ehrenführer Max Knecht. | |
Mich interessiert die Frage, wie sich Kolonialismus als Ideologie und | |
Praxis im lokalen Raum darstellt, wie relevant er „vor Ort“ war. Dafür | |
können Biografien wie historische Sonden dienen. Wer waren die Menschen, | |
die ihn beworben und öffentlich repräsentiert haben? Wie gingen sie mit | |
Kritik um? Wie überlagerten sich koloniale mit anderen Themen? Der | |
nationalliberal eingestellte Knecht kooperierte mit dem NS-Regime, weil er | |
damit koloniale Hoffnungen verband. „Lebensraum“ für Deutsche in Übersee | |
sah er als eine Frage von Sein oder Nichtsein. | |
Sind solche kritischen biografischen Studien nicht auch an Universitäten | |
möglich? | |
Doch, kritische Biografien werden auch an Unis laufend erarbeitet. | |
Allerdings hat der Wissenschaftsbetrieb eigene Logiken, und er ist langsam. | |
Die deutsche Kolonialgeschichte und ihre regionalen Spuren waren dort als | |
Forschungsgegenstand kaum verankert, als ich 2005 das unabhängige | |
Forschungs- und Bildungsprojekt „f[4][reiburg-postkolonial.de]“ gründete. | |
Wie bei den früheren Geschichtswerkstätten zur lokalen Alltags- und zur | |
NS-Geschichte braucht es ausdauernde zivilgesellschaftliche Initiative, um | |
das Thema voranzubringen. Inzwischen hat sich aber viel bewegt. | |
10 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Museumsprojekt-zur-Provenienzforschung/!5744829 | |
[2] /Oekumenisches-Gedenken/!5053833 | |
[3] /Kolonialismus-in-Schulbuechern/!5694899 | |
[4] https://freiburg-postkolonial.de/ | |
## AUTOREN | |
Tim Körner | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Katholiken | |
Geschichte | |
Katholische Kirche | |
Kolonialismus | |
Caritas | |
Humboldt Forum | |
Denkmal | |
Erinnerungskultur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Digitale Eröffnung des Humboldt Forums: Die Kritiker umarmen und erdrücken | |
Die Kolonialismusdebatte rund um die Ausstellungsstücke im Humboldt Forum | |
nimmt zur Eröffnung groteske Züge an. Überraschend ist das nicht. | |
Kultursenator über Bismarck-Denkmal: „Wir wollen nicht nur sanieren“ | |
Wie sollte Hamburg mit dem Bismarck-Denkmal im Alten Elbpark umgehen? | |
Kultursenator Carsten Brosda setzt auf eine Neukontextualisierung. | |
Dekoloniale Afrika-Konferenz beginnt: Afrikaner in der Wilhelmstraße | |
136 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz kommt die Dekoloniale | |
Afrika-Konferenz: 19 nicht weiße Frauen sprechen über Kolonialismus heute. |