| # taz.de -- Die Wahrheit: Gesellige Sozialisten unter Wasser | |
| > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (118): Korallen galten | |
| > lange als Verkörperung der Ideale der Französischen Revolution. | |
| Bild: Korallen vor Australien leiden unter Korallenbleiche | |
| Bei den Korallen wusste man lange nicht, ob es sich um Steine oder Pflanzen | |
| handelt. Erst recht kam niemand auf die Idee, dass es Tiere sind. Die | |
| „Steinkorallen“ wurden als Baumaterial für Straßen und Häuser „abgebau… | |
| die „Edelkorallen“ zu Schmuck verarbeitet – im Jahr 2010 noch über 500 | |
| Tonnen. | |
| Anfang des 18. Jahrhunderts entdeckte ein junger Arzt aus Marseille, dass | |
| es sich bei den vermeintlichen Blüten der Korallen um Tiere handelt. Aber | |
| die damalige Autorität, der Botaniker Carl von Linné, glaubte ihm nicht. | |
| Der französische Historiker Jules Michelet schreibt 1861 in „Das Meer“: Es | |
| waren „die Frauen, die hierfür ein feineres Gefühl besitzen als wir, sie | |
| haben sich darin nicht getäuscht; haben dunkel gefühlt, dass die Koralle | |
| ein Tier ist.“ Der Naturforscher Carl Vogt fand heraus: „Meist trägt zwar | |
| ein Bäumchen nur männliche, ein anderes nur weibliche Polypen – aber die | |
| Fälle kommen auch nicht selten vor, wo ein Ast desselben Bäumchens | |
| männliche, ein anderer weibliche Polypen trägt, oder wo auf demselben | |
| Ästchen männliche und weibliche Thiere bunt durcheinander stehen, oder | |
| endlich, wo derselbe Polyp männliche und weibliche Organe zugleich trägt, | |
| also ein vollkommener Zwitter ist.“ | |
| Die meisten Korallenarten vermehren sich durch externe Befruchtung. Dabei | |
| geben die Korallenpolypen gleichzeitig Spermien und Eizellen ab. Die | |
| Befruchtung findet im freien Wasser statt. Die befruchteten Eizellen | |
| entwickeln sich zu Larven, die einige Zeit im Wasser treiben und sich dann | |
| an geeigneten Standorten ansiedeln. Aus der Larve, die sich festheftet, | |
| entwickelt sich ein Polyp, der ein Skelett bildet, sich weiter teilt und so | |
| den Grundstock einer neuen Korallenkolonie bildet. | |
| ## CO2 als Rohstoff | |
| Fast alle Korallen leben in Symbiose mit bestimmten Bakterien und | |
| einzelligen Algen. Das Kohlendioxid, das die Polypen ausscheiden, dient den | |
| Algen als Rohstoff für die Photosynthese, der Überschuss verbindet sich mit | |
| dem im Wasser gelösten Kalzium zu Kalk, aus dem mit der Zeit riesige Riffe | |
| entstehen. So dehnt sich zum Beispiel das australische Great Barrier Reef | |
| über 347.800 Quadratkilometer aus. | |
| Der Ökologe Josef Reichholf verglich das Korallenriff mit dem Regenwald | |
| (in: „Der unersetzbare Dschungel“, 1991): Beide verdanken die ungeheure | |
| Fülle verschiedener Arten nicht einem Überfluss an Nahrung, sondern einem | |
| Mangel, weswegen jede Art sich dort nur in Nischen mit kleinen Populationen | |
| halten kann. Das Gleichgewicht zwischen ihnen ist äußerst labil. | |
| Wasserverunreinigungen, Klimaerwärmung, Fischer, Angler und Taucher haben | |
| schon viele Korallenriffe absterben lassen. | |
| Bereits Alexander von Humboldt hatte es in seinen Weltforschungen eher auf | |
| „Zusammenhänge“ als auf Einzelheiten abgesehen. Es geht um die Erforschung | |
| der „Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im | |
| weiteren Sinne alle Existenz-Bedingungen rechnen können“, wie der Zoologe | |
| Ernst Haeckel 1866 schrieb, der dafür den Begriff „Ökologie“ vorschlug. | |
| ## Unaufgeregte Menschen, konkurrierende Arten | |
| Dabei ging es ihm jedoch weiterhin eher um die Manifestationen des Lebens | |
| im individuellen Körper, während die heutigen Ökologen wirklich das Leben | |
| von Gemeinschaften verschiedener Organismen erforschen. Es hat den | |
| Anschein, als ob beispielsweise in Korallenriffen zwischen den vielen Arten | |
| ein ständiges Fressen und Gefressenwerden stattfindet, ein harter | |
| „Konkurrenzkampf ums Dasein“, wie der Darwin-Propagandist Ernst Haeckel an | |
| den ceylonesischen Korallenriffen beobachtet haben wollte (nicht jedoch bei | |
| den unaufgeregten Menschen auf der tropischen Insel). Gleichzeitig gibt es | |
| aber ebenso viele Bündnisse und Symbiosen zwischen den Riffbewohnern, um | |
| sich gegenseitig zu schützen, zu helfen und sogar zu ernähren. | |
| Bei der Erforschung der Korallenriffe standen sich gewissermaßen englische | |
| Darwinisten und französische Lamarckisten gegenüber. In seiner hymnischen | |
| Naturgeschichte „Das Meer“ (1861) begriff der Revolutionshistoriker Jules | |
| Michelet die Lebensgemeinschaft „Korallenriff“ sogar als Verwirklichung der | |
| „Ideale von 1789“, worüber er sein Hauptwerk verfasst hatte, „Freiheit, | |
| Gleichheit, Brüderlichkeit“. Er konnte sich dabei auf den von ihm verehrten | |
| Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck berufen, der sich mit den | |
| „wirbellosen Tieren“ beschäftigt hatte und den Begriff „Biologie“ prä… | |
| In der Riffgemeinschaft hatten es ihm vor allem die Medusen – Quallen – | |
| angetan, in denen er „die Spiele, die Eleganz und das Lächeln der neuen | |
| Freiheit“ verkörpert sah. (Quallen haben einen ähnlichen | |
| Reproduktionszyklus wie Korallen.) | |
| Der politisch engagierte Carl Vogt entdeckte 1866, dass „der Korallen-Polyp | |
| nicht nur ein geselliges Thier ist“, wie er in einem Artikel für die | |
| Gartenlaube schrieb, „sondern auch Socialist und Communist in der | |
| verwegensten Bedeutung des Wortes; nur durch gemeinsame Arbeit vieler, | |
| engverbundener Thiere kann der werthvolle Korallenstock aufgebaut werden, | |
| den der Mensch aus der Tiefe des Meeres fischt, und diese gemeinsame Arbeit | |
| ist nur unter der Bedingung möglich, daß jedes Einzelwesen allen Gewinnst | |
| seiner ernährenden Thätigkeit an die Allgemeinheit abgiebt. Jeder Polyp | |
| sucht so viele kleine Thierchen als nur möglich zu fangen und zu verdauen, | |
| auf den Nahrungssaft, den er aus denselben zieht, hat er das erste | |
| unbestreitbare Recht, allein dieser Nahrungssaft gehört nicht ihm allein. | |
| Während die unverdaulichen Reste durch den Mund ausgeworfen werden (es | |
| existirt hierfür keine besondere Oeffnung), tritt der Nahrungssaft aus der | |
| allgemeinen Höhlung des Polypenleibes in mannigfache Canäle über, mittelst | |
| deren er sich in der lebendigen Rindensubstanz des Korallenstockes | |
| vertheilt und zu allen übrigen Theilen gelangt.“ | |
| ## Du Staatsqualle | |
| Auch Ernst Haeckel sah im „Korallenstock“ das „wirklich gewordene Ideal d… | |
| Sozialdemokratie“, die „vollste Gütergemeinschaft“ – allerdings bemerk… | |
| auch ihre „Nachtheile: Denn da jede einzelne Korallenperson ebenso gut für | |
| sich existieren könnte und nur zwangsweise, durch das Band des körperlichen | |
| Zusammenhanges, dem Stock angehört, so hat sie durchaus kein Interesse an | |
| der Ausbildung des letzteren, und mit der Arbeitsteilung fehlt ihr die | |
| Fähigkeit zu höherer Entwicklung.“ | |
| Die hatte Haeckel selbst bei der „Staatsqualle“ (Siphonophoren) entdeckt, | |
| die einem „stark centralisirten Culturstaate“ ähneln. Im Gegensatz dazu | |
| haben bei den Korallen „alle Personengruppen oder Stände“ die gleichen | |
| Rechte und Pflichten. „Die wichtigste dieser Pflichten ist die Ablieferung | |
| einer bestimmten Nahrungssteuer.“ | |
| Den Ansatz einer Arbeitsteilung sah Haeckel nur bei den Federkorallen, bei | |
| denen es „Personen von verschiedener Bildung“ gebe – große, die männlich | |
| oder weiblich sind, und kleine, ohne Fortpflanzungsorgane und Tentakeln. | |
| „Sie scheinen bloß die Aufgabe zu haben, Wasser in den Stock aufzunehmen | |
| und abzugeben.“ | |
| Dass die anderen 6.500 Korallenarten die „knechtende Unterordnung unter die | |
| Teilung der Arbeit“ (Marx) bereits überwunden haben könnten, kam ihm nicht | |
| in den Sinn. | |
| 6 Apr 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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