# taz.de -- Die Wahrheit: Liebe zu dritt – wie die Tiere | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (116): Was | |
> Dreiecksbeziehungen von Gänsen mit Schriftstellerinnen zu tun haben. | |
Bild: Three is the magic number: Gänse haben es immer schon gewusst | |
Der schwedische Jäger und Tierfotograf Bengt Berg veröffentlichte 1930 ein | |
Buch mit dem Titel „Die Liebesgeschichte einer Wildgans“, das ein | |
internationaler Bestseller wurde. Er lebte an der südschwedischen Küste und | |
hatte dort im Mai 1926 sechs Gänseeier von einer Pute ausbrüten lassen. Als | |
die Jungen schlüpften, übernahm er sie, wobei er sie beringte – mit Zahlen | |
von 1 bis 6. Die „Nummer 5“ war die „kleinste, zarteste und schüchternst… | |
deswegen kümmerte er sich besonders um sie. Sie konnte bald fliegen, zog es | |
im Herbst aber vor, in Südschweden zu bleiben – auf dem Eis in der Bucht | |
vor Bengt Bergs Haus, wo sie sich „eifersüchtig von einem großen | |
kanadischen Gänserich bewachen ließ“, der nicht fliegen konnte. | |
Im Frühjahr aber flog sie mit einem „jungen Graugänserich herum“. Er durf… | |
dem Kanandaganter nicht zu nahe kommen, also waren sie nur zusammen, wenn | |
die „Gans Nummer 5“ aus der Bucht herausflog. Ihr Nest baute sie aber | |
„innerhalb der Bucht“. Wenn sie mit dem jungen Grauganter unterwegs war, | |
bewachte der alte Kanadaganter ihr Gelege. Zusammen mit ihm zog sie ihre | |
neun Jungen groß. Im Herbst flog sie mit ihnen und ihrem Liebhaber in den | |
Süden. Ende Mai des darauffolgenden Jahres war Gans Nummer 5 mit fünf neuen | |
Jungen zurück. Sie brachte auch diese dem flügelbeschnittenen Kanadaganter; | |
sobald die Jungen jedoch fliegen konnten, wurden sie vom Grauganter | |
beschützt. Im Herbst blieb sie mit ihren fünf Jungen beim „großen | |
flügellahmen Gänserich“. Zu Bengt Bergs Überraschung blieb auch ihr | |
jugendlicher Liebhaber. Der alte Kanadaganter versuchte ihn möglichst zu | |
übersehen, und der Grauganter machte sich nützlich, indem er bei Ausflügen | |
die Seeadler abwehrte. | |
Im Juni des darauffolgenden Jahres kam Gans Nr. 5 zurück – erneut mit fünf | |
Jungen. Auch diesmal brachte sie diese dem Kanadaganter, während sie mit | |
ihrem Liebhaber herumflog. Ihre Ménage-à-trois hielt sich, aber „da sie die | |
weitaus Klügere war, hing alles von ihrer Überlegung und von ihrem Willen | |
ab. Sie hatte das Vertrauen zu mir, weil ich sie erzogen hatte. Der | |
Kanadaganter folgte, wo er von selbst niemals hingegangen wäre. Und die | |
Kinder – sie folgten und gehorchten ihr, aber nur ihr“, schrieb Bengt Berg. | |
Um sich vorzustellen, wie sich diese Dreierbeziehung aus der Sicht der Gans | |
Nr. 5 darstellte, kann man sich bei der französischen Feministin Benoîte | |
Groult ein Bild machen – in ihrer freizügigen Liebesgeschichte „Salz auf | |
unserer Haut“. Die Autorin lebte an einer Bucht der Irischen See und | |
angelte täglich. Sie war mit einem Schriftsteller verheiratet, hatte Kinder | |
mit ihm und daneben einen bäuerlichen Liebhaber, der Kapitän eines | |
Thunfischfangschiffs war und mit dem sie sich immer wieder in luxuriösen | |
Badeorten traf. 2018 wurde Benoîte Groults irisches Tagebuch posthum von | |
einer ihrer Töchter veröffentlicht: „Vom Fischen und von der Liebe“. Der | |
Kapitän war in Wahrheit ein naiver US-Pilot, dessen große Liebe zu ihr bis | |
zu seinem Tod währte. | |
## Es gibt auch den Film | |
Groults Roman löste 1988 einen Skandal aus und wurde dadurch ein | |
Weltbestseller. Auch der mit der nationalsozialistischen Rassentheorie | |
sympathisierende Bengt Berg fand das Verhalten seiner Gans Nummer 5 | |
skandalös, insofern er davon ausging, dass der junge Grauganter der Vater | |
ihrer ersten Kinder war: „Es wäre ja auch ganz gegen die Natur, mit diesem | |
Fremden Mischlinge zu erzeugen“, meinte er. Erst später fand er heraus, | |
dass der alte Kanadaganter doch ihr Vater sein musste. | |
Kann man die Dreierbeziehung der Gans Nummer 5 mit der von Benoîte Groult | |
oder auch mit der von Lola Randl, einer in einem brandenburgischen Dorf mit | |
ihrem Mann und ihrem Liebhaber lebenden Schriftstellerin („Der große | |
Garten“, 2019) vergleichen? Wobei das lokale und permanente Arrangement von | |
Randl wohl komplizierter aufrechtzuerhalten ist als das von Groult, die | |
ihren Liebhaber nur ein paar Mal im Jahr traf. Lola Randl verliert darüber | |
aber kein Wort. Möglicherweise kann man das Liebesleben von | |
Schriftstellerinnen und Gänsen gar nicht ohne Weiteres vergleichen, dabei | |
klingt noch die Nazi-Biologie nach, die in den USA als Soziobiologie | |
betrieben wird. | |
Beim Tierforscher Konrad Lorenz war das noch fast unschuldig. In einem | |
Aufsatz aus dem Jahr 1940 schrieb er: „Die vorliegende Arbeit soll | |
versuchen, aus dem Verhalten von Tieren gewisse, in den tiefsten Schichten | |
menschlichen Seelenlebens sich abspielende Vorgänge dem Verständnis | |
näherzubringen.“ Gänsewissen ist auch Menschenwissen. Als ihm damals ein | |
Vorwurf daraus gemacht wird, antwortete er: „Wir vermenschlichen nicht die | |
Tiere, sondern vertierlichen den Menschen.“ Als er 1973 den Nobelpreis | |
erhielt, wurde ihm das als Nazi-Ideologie angekreidet. Die Nazi-Biologen | |
arbeiteten jedoch lieber mit „staatenbildenden Insekten“ als mit untreuen | |
Vögeln. Der nationalsozialistische Staatsrechtler Carl Schmitt war sich mit | |
dem sozialdarwinistischen Insektenforscher Karl Escherich, damaliger Rektor | |
der Münchner Universität, einig: Der Ameisenstaat kann „nie ein Rechtsstaat | |
sein“, die sozialen Insekten haben das Problem biologisch gelöst. Und die | |
Nazis machten sich anheischig, es ihnen nachzutun. Denn dieser „Totalstaat | |
reinster Prägung“ sei bei den Menschen „bisher noch nicht erreicht“. | |
Escherich lehrte 1934: „Das oberste Gesetz des nationalsozialistischen | |
Staates ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ ist im Insektenstaat bis in die | |
letzte Konsequenz verwirklicht.“ | |
## Nie von Ameisen auf sich schließen | |
Von den Ameisen wird noch immer auf die menschliche Gesellschaft | |
geschlossen, schlimmer noch: Die Soziologen sollen von den Entomologen | |
lernen, wenn sie weiterhin ernst genommen werden wollen. So geht es der | |
nach dem Krieg in den USA entstandenen „Soziobiologie“ nach wie vor um das | |
vergleichbare Sozialverhalten von Tieren und Menschen. Die heutigen | |
„Ameisenpäpste“, die Soziobiologen Edward O. Wilson und Bert Hölldopler, | |
entblöden sich etwa nicht, zu schreiben: „Ameisen wie Menschen haben die | |
Fähigkeit zum äußersten Opfer.“ | |
Eine Biosoziologie dagegen lässt leider auf sich warten, also die Auflösung | |
der Biologie in Soziologie oder mit den Worten von Timothy Morton: eine | |
„Ökologie ohne Natur“. Bezogen auf die Gans Nummer 5 und die | |
Schriftstellerinnnen Groult und Randl könnte man mit der feministischen | |
Biologin Donna Haraway auch sagen: „Es gibt weder die Kultur noch die | |
Natur, aber viel Verkehr zwischen den beiden.“ | |
Die Literaten – vor allem die russischen – gehen schon lange davon aus: Von | |
Tolstoi bis Pasternak korrespondiert die Natur ständig mit den | |
Leidenschaften der Menschen – und umgekehrt. In Joseph Roths Roman | |
„Radetzkymarsch“ sind es vor allem die Gänse, die um den beginnenden Krieg | |
und das Ende der k. u. k. Monarchie wissen – und es den Menschen kundtun. | |
9 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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