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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Kuh der Armen
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (115): Ziegen sind
> kleine Abenteurer und unternehmen gern Streifzüge.
Bild: Bilden Sie einen Satz mit „Ziegen“ und „starren“
Keine griechischen Tragödien ohne Ziegen? Der Philologe Walter Burkert
meint gar, Tragödie bedeute „Lied für die Preisziege“, greelane.com
vermutet, dass sich dies ursprünglich auf Satyrspiele bezog, in denen
Schauspieler als Satyrn verkleidet waren – ziegenähnliche Menschen, die
Gefährten von Dionysos, dem Gott des Weines und der Ekstase. Bei den
athenischen Festspielen, den Dionysien, durften die Bürger die Sau
rauslassen beziehungsweise den geilen Ziegenbock.
Die weibliche Ziege bezeichnet man auch als Kuh der Armen. Heute gibt es
weltweit etwa 700 Millionen Ziegen, davon ist ein beträchtlicher Teil
verwildert (= frei). Die Ziegen gehören, zusammen mit rund einer Milliarde
Schafe, zu den wichtigsten Verursachern von Treibhausgasen; bei ihrer
Verdauung wird Methan freigegeben, schreibt der Ökologe Josef Reichholf in
„Haustiere“ (2017) und fügt hinzu: „Schafe zu bewachen ist ein Kinderspi…
verglichen mit dem Ziegenhüten.“ Denn Ziegen sind viel eigensinniger, sie
haben als Individuen mehr Handlungsmacht und bekommen deshalb auch öfter
Namen als Schafe.
Die schwäbische Schäferin Ruth Häckh erwähnt in „Eine für alle. Mein Leb…
als Schäferin“ (2018) ihre Ziege Clara, die besonders mutig ihre Drillinge
verteidigte, und die gute Ziege ohne Ohrmarke (das waren noch Zeiten)
Gertrude, die in ihrer Herde von allen gemieden wurde, immer allein
unterwegs war und trotzdem sehr alt wurde. Aber bei aller Bewunderung sind
Ziegen aus Sicht der Schäferin eigentlich unmöglich. Wie Schafe hüten
lassen sie sich nicht, dafür sind sie zu ausgeprägte Individualisten.
Schafe fressen Gras, Ziegen lieber Blätter. Gertrude setzte sich einmal an
die Spitze der Herde, brach aus und zog von einem Obstgarten zum anderen –
alle Schafe hinterher. Ruth Häckh durfte anschließend bei fünfzehn Bauern
Schadensersatz leisten.
Ziegen können gut klettern und auch ohne Probleme über Zäune springen. Auf
der Alb tun sie das, um auf eigene Faust verbotene Streifzüge durch den
angrenzenden Wald zu unternehmen. Für Ruth Häckh gibt es keinen
wirtschaftlichen Grund, Ziegen zu halten. Sie tun aber der Seele gut,
steuern sozusagen ein abenteuerliches Element bei.
## Lessing mit Zicklein
Seit einigen Jahren werden neben Schafherden reine Ziegenherden zur
Landschaftspflege, unter anderem in der Rhön, eingesetzt – für das Abweiden
der Steilhänge. Ziegen sind Gebirgstiere.
Der exilierte Philosoph Theodor Lessing spielte mit einem Zicklein im
Garten, dabei fiel ihm die Gleichheit der Naturen auf, was durch den
Umstand gefördert wurde, dass wir Milchbrüder sind, denn er und das
Zicklein Nanekobo lebten gleichermaßen von der Milch der Mutterziege. Wenn
die beiden auf dem Rasen spielten, stießen sie mit tief gesenktem Kopf
gegeneinander und rieben sich die Stirn: beide hervorragende Kopfarbeiter.
Wir hatten auch einmal ein Zicklein, das ich für eine Mark meinem Vater zum
Geburtstag geschenkt hatte. Ich hielt ihm statt meines Kopfes einen
Alukochtopf hin, gegen den es gerne stieß. Später schafften wir uns zu
unserer kleinen Schafherde einen erwachsenen Ziegenbock an. Er sprang
leichtfüßig aus dem Schafstall und in die Pferdeboxen, wo er den Pferden
den Hafer wegfraß. Wenn ich in einen Club fuhr, hob ich ihn vorher an den
Vorderbeinen hoch und drückte ihn fest an mich. Auf Augenhöhe ermahnte ich
ihn, sich anständig zu benehmen. Ziegenböcke stinken. Im Club dann begrüßte
mich ein Freund aus Eritrea: „Helmut, lass dich umarmen, du riechst so nach
Heimat“. Auch zwei blonde Mädchen schnupperten gerne an mir herum: Diese
Stadt-Teenager hielten den Ziegenbockgeruch für ein interessantes
Männerparfum.
## Ziegencurry
In dem Roman „Der Schiffskoch“ (2020) von Mathijs Deen geht es um einen
jungen Ziegenbock, den eine Bäuerin dem Koch Lammert schenkt und den er mit
auf das Feuerschiff „Texel“ nimmt als lebenden Proviant. Auch diese Bäuerin
meint: Eine Ziege will immer ausreißen. Sie hielt trotzdem einige in ihrer
Schafherde: So hatte sie für den Fall, dass ein Mutterschaf ein Lamm
verstieß oder dass es zu viele Mehrlingsgeburten gab, immer eine Ziege mit
Milch, die ein Schaflamm säugen konnte. Die von den Ziegen geborenen
Böckchen gab sie frühzeitig weg, an Kinder, die sie gern mit der Flasche
aufzogen.
Der Schiffskoch Lammert nimmt das Böcklein am Strick mit auf die „Texel“,
um daraus ein indonesisches Ziegencurry-Gericht für die elfköpfige
Mannschaft zu zaubern. Eigentlich sind keine Tiere an Bord erlaubt, aber er
macht ihnen mit dem Wort Schmorfleischeintopf den Mund wässrig. Das
neugierige Böckchen wird bei einigen Matrosen schnell beliebt. Sie geben
ihm Milch aus der Flasche, es schläft auf dem Kartentisch und klettert
überall hoch. Lammert hatte allen gesagt: „Gebt ihm keinen Namen!“ Sie
reden das Tier deswegen mit Schmorfleischeintopf an.
Am Tag, als Lammert es schlachten will, muss er sich stattdessen wegen
eines Malariaanfalls erst mal in seine Koje legen, und dann hat sein
Ersatzkoch auch noch einen schweren Unfall. Die „Texel“-Mannschaft wird
daraufhin vorzeitig ausgetauscht. An Land geht einer der Matrosen mit dem
Böckchen an der Leine zu dem Hof, in dem die Bäuerin lebt, die Lammert das
Tier geschenkt hatte. Bereits von Weitem sieht es die Schafe und Ziegen auf
der Weide und fängt an zu blöken. Als sich ihm seine Mutter nähert, wedelt
es wie wild mit dem Schwänzchen. Schon bald ist das Böckchen von einer
Horde halb ausgewachsener Lämmer umringt. Es macht einen Ausfall und
verpasst einem der Lämmer einen Stoß gegen den Kopf.
Auf dem Hauptstadtportal [1][berlin.de] heißt es: Wer Lust auf ein etwas
anderes Haustier hat, sollte sich eine Ziege zulegen. Dazu interviewten die
Redakteure den Zuchtleiter des Schafzuchtverbandes Baden-Württemberg, der
mit Kollegen ein Buch über Ziegenhaltung geschrieben hat: Viele Menschen
arbeiten heute acht Stunden im Sitzen. Die Beschäftigung mit den Ziegen
bildet hier einen Gegenpol. Die Tiere würden einen Rhythmus vorgeben, bei
dem der Mensch zur Ruhe komme. Das ist jedoch sehr anthropozentrisch
gedacht.
22 Feb 2021
## LINKS
[1] http://berlin.de
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Die Wahrheit
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