# taz.de -- Kinder und Polizei: Sechsjähriger unter Tatverdacht | |
> Eine Mutter will verhindern, dass schon Kinder mit der Polizei und dem | |
> Strafrecht in Berührung kommen. Die Justiz beruft sich aber aufs | |
> „Kindeswohl“. | |
Bild: Berliner Mutter fordert: keine Ermittlung gegen strafunmündige Kinder in… | |
[1][Die Polizei soll in Deutschland] nicht mehr gegen strafunmündige Kinder | |
ermitteln. Das fordert eine Berliner Mutter und Juristin, die gegen die | |
Polizei Strafanzeige wegen „Verfolgung Unschuldiger“ gestellt hat. Ihr Sohn | |
war erst sechs Jahre alt, als er von der Polizei vorgeladen wurde. | |
Die Mutter, die aus Rücksicht auf ihre Kinder anonym bleiben will, | |
schildert einen Vorfall aus dem Herbst 2019. Damals gab es an der | |
Grundschule ihres frisch eingeschulten Sohnes einen Konflikt im Hort. Eine | |
Erzieherin versuchte daraufhin, die Eltern anzurufen. Dies wollte der | |
kleine Junge wohl verhindern. Er trat der Erzieherin (in Hausschuhen) auf | |
den Fuß und schlug sie mit seiner Kinderhand aufs Handgelenk. | |
Die Eltern holten den Jungen sofort ab und erklärten ihm, dass man | |
Erzieherinnen nicht schlagen darf. Der 6-Jährige entschuldigte sich. Doch | |
die Erzieherin und der Konrektor der Schule stellten Strafanzeige wegen | |
Körperverletzung. | |
Im Dezember 2019 erhielten die Eltern von der Berliner Polizei ein | |
Schreiben mit der Überschrift „Vorladung von Kindern“. Der Junge solle mit | |
den Erziehungsberechtigten aufs Revier kommen, um in einer | |
„Ermittlungssache“ angehört zu werden. Auf der Rückseite stand ein | |
„Merkblatt für junge Tatverdächtige und ihre Eltern“. | |
## Kinder bis 14 Jahre sind strafunmündig | |
Die Mutter, eine promovierte Juristin, die in der Wissenschaft tätig ist, | |
war empört. Schließlich sind Kinder in Deutschland bis zum Alter von 14 | |
Jahren strafunmündig, das heißt: sie dürfen vom Staat nicht bestraft | |
werden. Die Mutter beschwerte sich deshalb bei der Schule über die | |
Strafanzeige und bei der Polizei über die Vorladung des 6-Jährigen. | |
„Es ist doch pädagogische Aufgabe der Schule, Konflikte selbst | |
aufzuarbeiten, statt kleine Kinder von der Polizei mit Uniformen und Waffen | |
einschüchtern zu lassen“, beschreibt die Mutter ihre damaligen Gedanken. | |
Weil Mutter und Vater arabische Namen tragen, befürchteten sie zudem, dass | |
(trotz ihres bildungsbürgerlichen Hintergrunds) auch Vorurteile zur Anzeige | |
und Vorladung führten. | |
Doch die Gespräche mit Schule, Schulaufsicht und Polizei brachten aus Sicht | |
der Mutter wenig. Eingestanden wurde dort allenfalls, dass das Vorgehen im | |
Fall ihres Sohnes unnötig war. Grundsätzliche Bedenken gegen den Umgang mit | |
strafunmündigen Kindern habe niemand gehabt, so die Mutter. | |
Im November 2020 machte die Juristin den Fall daher [2][via Spiegel ] | |
öffentlich. Zudem schrieb der konservative Bonner Rechtsprofessor Klaus | |
Ferdinand Gärditz einen Fachaufsatz über die „Verfolgung Strafunmündiger | |
als Erziehungskonzept“. Die Beamten hätten sich wegen „Verfolgung | |
Unschuldiger“ strafbar gemacht, so Gärditz. | |
Die Strafnorm – Paragraph 344 – erfasse auch den Fall, dass jemand | |
strafrechtlich verfolgt wird, der „nach dem Gesetz nicht strafrechtlich | |
verfolgt werden darf“, zum Beispiel ein Sechsjähriger. Die Schule habe mit | |
ihrer Anzeige hierzu Beihilfe oder Anstiftung geleistet, so Gärditz. Die | |
Mutter übernahm die Argumentation des Professors und stellte nun ihrerseits | |
Strafanzeige gegen Polizei und Schule. | |
Doch die Berliner Staatsanwaltschaft lehnte es ab, den Fall aufzugreifen. | |
In der Einstellungsverfügung, die der taz vorliegt, heißt es: | |
„Ermittlungsverfahren gegen Kinder dienen nicht der Strafverfolgung“, sie | |
dienten vielmehr dem „Kindeswohl“, nämlich der Prüfung, [3][ob das | |
Jugendamt] oder das Familiengericht im Interesse des Kindes einzuschalten | |
seien. Um diese Prüfung zu ermöglichen, müssten Strafanzeigen und | |
Ermittlungen gegen Kinder möglich sein, so die Staatsanwaltschaft. | |
Die Mutter war nun wirklich entsetzt. Der Umgang mit ihrem sechsjährigen | |
Sohn schien also kein krasser Einzelfall zu sein, sondern eher gängige und | |
von der Justiz akzeptierte Praxis. Sie legte deshalb vorige Woche | |
Beschwerde bei der Berliner Generalstaatsanwaltschaft ein. „Die Tatsache, | |
dass etwas täglich massenhaft passiert, kann nicht bedeuten, dass dieses | |
Verhalten nicht strafrechtlich relevant sein kann“, heißt es in der | |
Beschwerde, die der taz ebenfalls vorliegt. | |
Die Mutter hält auch die Berufung auf das „Kindeswohl“ für abwegig. | |
Schließlich sehe die UN-Kinderrechtskonvention ausdrücklich ein | |
Mindestalter bei der Strafmündigkeit vor. Bis zu diesem Alter seien Kinder | |
„vor der Berührung mit der Strafrechtspflege“ zu bewahren, so die Juristin. | |
## Polizeiliche Vorladung als erzieherische Maßnahme? | |
Die Praxis ist bundesweit aber anders. Es ist wohl in allen Bundesländern | |
üblich, dass die Polizei nach der Strafanzeige gegen ein Kind zunächst | |
Ermittlungen aufnimmt, die dann erst später von der Staatsanwaltschaft | |
wegen Strafunmündigkeit eingestellt werden. In Sachsen räumt man immerhin | |
ein, dass die Konfrontation der Kinder mit der Polizei auch „erzieherische | |
Wirkung“ erzielen soll. | |
Die Berliner Polizei erklärte auf Nachfrage, dass bei jeder Anzeige gegen | |
ein Kind eine Vorladung aufs Revier erfolge. So habe man die Chance, | |
Gefahren für das Kind zu entdecken. Für die Befragung der Kinder gebe es | |
zwar keine speziellen BeamtInnen, „aber alle Polizisten sind gut | |
ausgebildet“, erklärte ein Polizeisprecher. | |
Der Ermittlungsvorgang werde im polizeilichen Informationssysten POLIKS | |
gespeichert. Die Information kann damit später negative Auswirkungen haben, | |
vor allem wenn der junge Mensch im strafmündigen Alter, also ab 14 Jahren, | |
erneut mit der Polizei in Kontakt kommt. | |
Bei der [4][Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und | |
Jugendgerichtshilfen] (DVJJ) kann man das Vorgehen der Polizei | |
nachvollziehen. „Es könnte ja auch der Hilferuf eines missbrauchten Kindes | |
sein, wenn es sich so auffällig verhält, dass es angezeigt wird“, gibt | |
Rechtsprofessorin Theresia Höynck, die DVJJ-Vorsitzende, zu bedenken. | |
Die Berliner Mutter überzeugt all das nicht. „Es ist auch Aufgabe der | |
Schule, möglichen Kindeswohl-Gefährdungen nachzugehen.“ Anders als die | |
Polizei sähen die Lehrkräfte die Kinder ja jeden Tag. „Polizei und | |
Pädagogik muss man getrennt halten“, sagt die Mutter. | |
4 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Polizeigewalt-in-Deutschland/!5703346 | |
[2] https://www.spiegel.de/panorama/bildung/berlin-wenn-die-grundschule-einen-s… | |
[3] /Haeusliche-Gewalt-im-Lockdown/!5733652 | |
[4] https://www.dvjj.de/ | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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