| # taz.de -- Krise in Georgien: Zack, weg war er | |
| > Der Regierungschef Giorgi Gakharia tritt zurück. Es geht um den Umgang | |
| > mit dem Chef der Oppositionspartei. Dem droht die Festnahme. | |
| Bild: Anhänger*innen der Opposition demonstrieren am Donnerstag in Tiflis | |
| Berlin taz | Die Südkaukasusrepublik Georgien schaltet wieder einmal in den | |
| Krisenmodus: Am Freitag kam es zu Zusammenstößen zwischen | |
| Sicherheitskräften und dutzenden Aktivist*innen, die versucht hatten, vor | |
| dem Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Tiflis ein Zelt aufzubauen. 20 | |
| Personen wurden fest genommen. [1][Bereits seit Monaten] versammeln sich | |
| hier immer wieder Anhänger*innen der Opposition, um gegen die, ihrer | |
| Meinung nach, gefälschten Ergebnisse der Parlamentswahl vom 31. Oktober | |
| 2020 zu demonstrieren. | |
| Mitte der Woche hatte der erbarmungslose Kampf zwischen der seit 2012 | |
| regierenden Partei des Milliardärs Bidzina Iwanischwili, Georgischer Traum, | |
| und der größten Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung (ENM) einen | |
| neuen Höhepunkt erreicht. Am Donnerstag kam es zu einem Wechsel auf dem | |
| Posten des Regierungschefs. Als neuer Amtsinhaber, den das Parlament noch | |
| bestätigen muss, wurde Irakli Gharibaschwili vorgeschlagen. Der 39jährige | |
| stand bereits von 2013 bis 2015 an der Spitze der Regierung, wechselte dann | |
| aber in die Wirtschaft. 2019 kehrte er in die Politik zurück und wurde | |
| Verteidigungsminister. | |
| Am Donnerstag morgen hatte der bisherige Ministerpräsident Giorgi Gakharia | |
| überraschend seinen Rücktritt eingereicht. Zur Begründung seiner | |
| Entscheidung sagte Gakharia, er wolle der wachsenden politischen | |
| Polarisierung entgegenwirken. Dabei verwies er auf | |
| Meinungsverschiedenheiten mit einigen seiner Parteikollegen über den Umgang | |
| mit dem Chef der ENM, Nika Melia. | |
| Die Kausa Melia hat eine längere Vorgeschichte, die auf den 20. Juni 2019 | |
| zurückgeht. An diesem Tag hatten in Tiflis mehrere [2][tausend | |
| Demonstrant*innen versucht, das Parlament in der Hauptstadt Tiflis zu | |
| stürmen]. Auslöser für den geballten Volkszorn war ein Besuch des | |
| russischen Abgeordneten Sergej Gawrilow, der auf dem Sessel des | |
| Parlamentspräsidenten Platz genommen und von dort aus eine Rede gehalten | |
| hatte. | |
| ## Russland als Bedrohung | |
| Spätestens seit dem [3][Krieg zwischen Georgien und Russland im August 2008 | |
| um die abtrünnige Region Südossetien], den Tiflis verlor, stehen weite | |
| Teile der georgischen Bevölkerung dem Nachbarn ablehnend gegenüber. Laut | |
| einer Erhebung aus dem Jahr 2018 halten 85 Prozent der Befragten Russland | |
| für eine Bedrohung. | |
| Bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen am 20. Juni 2019 – | |
| Sicherheitskräfte setzten Tränengas und Gummigeschosse ein – wurden | |
| mindesten 240 Menschen verletzt, davon einige schwer. Pikanterweise war | |
| Gakharia just zu diesem Zeitpunkt Vize-Regierungschef und Innenminister. Er | |
| hatte jedoch nichts Besseres zu tun, als den brutalen Polizeieinsatz zu | |
| rechtfertigen. | |
| Zur Verantwortung aus den Reihen der Polizei gezogen wurde bislang niemand, | |
| dafür bekam es jedoch Melia mit der Justiz zu tun. Die | |
| Generalstaatsanwaltschaft warf ihm vor, bei dem Gewaltausbruch eine | |
| führende Rolle gespielt zu haben. Am 26. Juni wurde ihm vorübergehend seine | |
| parlamentarische Immunität entzogen. | |
| Per Gerichtsbeschluss blieb er gegen Zahlung einer Kaution auf freiem Fuß, | |
| musste aber fortan eine elektronische Fußfessel tragen. Schon damals | |
| behaupteten Melia und andere Vertreter der ENM, das Verfahren sei politisch | |
| motiviert. | |
| ## Vorwurf Landesverrat | |
| Wie vergiftet das Verhältnis zwischen dem georgischen Traum und der ENM | |
| mittlerweile ist, zeigten auch einige Ereignisse rund um die | |
| Parlamentswahlen am 31. Oktober 2020. Am 7. Oktober wurden zwei | |
| Kartograf*innen unter dem Vorwurf des Landesverrats festgenommen. Sie | |
| hatten die georgische Regierung in Sachen eines Grenzstreits mit dem | |
| Nachbarn Aserbaidschan beraten. | |
| Der Verlauf der Grenze ist seit der Unabhängigkeit der beiden | |
| Kaukasusländer 1991 umstritten. Betroffen ist auch ein Areal, auf dem sich | |
| das älteste Kloster Georgiens, Davit Gareja, befindet. Die | |
| Wissenschaftler*innen werden beschuldigt, zwischen 2004 und 2007 unter | |
| der Regierung der ENM Kartenmaterial zurückgehalten und damit | |
| Entscheidungen zuungusten Georgiens beeinflusst zu haben. Irakli | |
| Gharibaschwili, damals noch Verteidiungsminister, sprach von einer | |
| „verräterischen Verzicht, für den es die ENM verdiene, verboten zu werden. | |
| Dem eigentlichen Wahltermin war zudem ein schier endloses Gezerre um eine | |
| Reform des Wahlrechts vorausgegangen. Unter internationaler Vermittlung kam | |
| schließlich [4][ein Kompromiss] zustande: Eine Verschiebung innerhalb eines | |
| gemischten Systems hin zu einem Verhältniswahlrecht nebst Absenkung der | |
| Sperrklausel sollte eine fairere Repräsentation der politischen Kräfte im | |
| Parlament ermöglichen. | |
| Bei der Parlamentswahl fuhr der Georgische Traum jedoch abermals mit 48 | |
| Prozent der Stimmen eine satte Mehrheit ein. Die Opposition sprach von | |
| massivem Wahlbetrug, rief zu Protesten auf und boykottiert seitdem die | |
| Sitzungen des Parlaments. | |
| ## Entzug der Immunität | |
| Auch Melia machte wieder auf sich aufmerksam. Am 1. November 2020 | |
| entledigte er sich auf einer öffentlichen Veranstaltung demonstrativ seiner | |
| Fußfessel und kam der Zahlung einer Kaution, die zwischenzeitlich erhöht | |
| worden war, nicht nach. | |
| Am vergangenen Dienstag stimmte nach einem entsprechenden Ersuchen der | |
| Generalstaatsanwaltschaft eine Mehrheit der Abgeordneten dafür, Melia die | |
| Immunität zu entziehen. Tags darauf ordnete ein Gericht in Tiflis seine | |
| Festnahme an. Die Opposition reagierte prompt: Man werde sich diesem | |
| Vorstoß des Georgischen Traums in Richtung eines kompletten Autoritarismus | |
| widersetzen, heißt es in einer Erklärung von 18 Parteien. | |
| Für zusätzlichen Sprengstoff sorgte auch ein Statement des besagten | |
| russischen Abgeordneten Sergej Gawrilow, der sich in einem Interview mit | |
| dem Sender TV Priveli in Lobeshymnen auf den Georgischen Traum erging. Die | |
| Regierungspartei tue alles, um einen Staatsumsturz und Repressionen zu | |
| verhindern. Die Opposition hingegen lasse nichts unversucht, um die | |
| Beziehungen Georgiens zu seinen Partnern zu beschädigen, sagte er. | |
| Noch ist Melia, dem im Falle einer Verurteilung bis zu neun Jahren Haft | |
| drohen, auf freiem Fuß. Doch das könnte sich schnell ändern. Denn vom neuen | |
| Regierungschef, sollte er denn gewählt werden, hat er keine Milde zu | |
| erwarten. Im Umgang mit Regierungskritiker*innen ist Irakli | |
| Gharibaschwili als Hardliner bekannt. | |
| Unterdessen hat die Opposition, die das Vorgehen gegen Melia als | |
| „politische Hexenjagd“ bezeichnet, für den 25. Februar weitere Proteste in | |
| Tiflis und der Hafenstadt Batumi angekündigt. Das ist der 100. Jahrestag | |
| des Einmarsches der Roten Armee, der 1921 das Experiment der Demokratischen | |
| Republik Georgien beendete. | |
| 20 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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