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# taz.de -- Stadt des Bundesverfassungsgerichts: Zweites deutsches Machtzentrum
> Regional spielt Stuttgart die erste Geige. Dafür ist die brave
> Beamtenstadt Karlsruhe bundespolitisch höchst relevant – als Ort der
> Rechtsjustiz.
Bild: Viel Einfluss trotz schlichter Fassade: Das Gebäude des Bundesverfassung…
KARLSRUHE taz | Deutschland hat zwei Machtzentren: Berlin und Karlsruhe. In
Berlin sitzt die politische Macht: Bundestag, Bundesregierung und
Bundesrat. In Karlsruhe sitzt die juristische Macht, das
Bundesverfassungsgericht, das bei Lichte betrachtet aber auch eine
politische Macht ist.
Gut 500 Kilometer sind Berlin und Karlsruhe entfernt. Die Distanz ist
Programm. Regierungsmitglieder und VerfassungsrichterInnen sollen abends
nicht in denselben Restaurants, Clubs und Opernhäusern verkehren. Man
könnte meinen, das Bundesverfassungsgericht sei die oberste Macht im Staat.
Es kann sogar Gesetze für nichtig erklären.
Das macht es aber nur selten, meist betont es den Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers.
Dennoch sitzt das Bundesverfassungsgericht der Politik immer im Nacken.
Wenn ein neues Gesetz diskutiert wird, gibt es in Deutschland stets zwei
parallele Diskussionen. Ist das Gesetz sinnvoll? Und ist es
verfassungskonform? Wer sich politisch nicht durchsetzen kann, geht nach
Karlsruhe. Eine KlägerIn findet sich immer.
Im kommenden Jahr will Karlsruhe [1][zum Beispiel über die deutsche
Klimapolitik entscheiden], über Kinderehen, die Masern-Impfpflicht, die
Erhöhung des Rundfunkbeitrags, den Ausschluss der NPD von der
Parteienfinanzierung, den Berliner Mietendeckel und das Ceta-Abkommen von
EU und Kanada.
Die Karlsruher RichterInnen sehen ihre Kontrolle als eine Art
„Reflexionsschleife“ des politischen Systems. Wenn die Richter etwas
beanstanden, dann meist [2][unter Verweis auf das
Verhältnismäßigkeitsprinzip]. Die Verfassungsrichter setzen dann ihre
Abwägung an die Stelle der Abwägung des Gesetzgebers.
So können sie durch punktuelle Korrekturen größeren Unmut der Betroffenen
auffangen. Die Karlsruher Urteile sichern damit die Akzeptanz für den Staat
und stärken so letztlich auch das Berliner Zentrum.
## „Nach Karlsruhe“ – nie „vor“
Auch die Möglichkeit, dass jede BürgerIn am Ende eines langen Instanzenwegs
noch „nach Karlsruhe“ gehen kann, hat eine wichtige Funktion. Zwar sind nur
2 Prozent aller Verfassungsbeschwerden erfolgreich. Aber das
Bundesverfassungsgericht wird als echtes Bürgergericht wahrgenommen.
Dies unterstreicht auch die äußere Gestalt des Gerichts. Es ist eben kein
klassischer Justizpalast. Das Gebäude des Architekten Paul Baumgarten ist
modern, bescheiden und transparent. Besonders prägnant wirkt der Kontrast
zum direkt daneben liegenden Karlsruher Schloss.
Dass sich das Bundesverfassungsgericht als Gericht eigener Art versteht,
unterstreicht es auch durch seine Pressearbeit. Was kein anderes Gericht
wagen würde, ist in Karlsruhe üblich: Bereits am Vorabend von großen
Urteilen können die Justiz-KorrespondentInnen eine Presseerklärung an der
Pforte des Gerichts abholen, um sich mit den komplexen Argumentationen des
Gerichts vertraut zu machen. Inzwischen hat allerdings die AfD gegen diese
spezielle Karlsruher Praxis geklagt.
## Residenz des Rechts
Wegen der Mischung aus alten Palästen und wichtigen Gerichten wird
Karlsruhe auch die „Residenz des Rechts“ genannt. Noch vor dem
Bundesverfassungsgericht kam 1950 der Bundesgerichtshof (BGH) nach
Karlsruhe, das höchste deutsche Zivil- und Strafgericht.
Bis dahin war Leipzig das Zentrum des deutschen Justizsystems. Dort stand
seit dem Kaiserreich das Reichsgericht.
Doch nun lag Leipzig in der DDR und der neue BGH brauchte einen anderen
Sitz. Nach dem Krieg bewarben sich 12 Städte. In die Endauswahl kamen Köln
(mit Unterstützung von Kanzler Adenauer) und Karlsruhe.
Letztlich gab den Ausschlag, dass Karlsruhe mit dem erbgroßherzoglichen
Palais ein repräsentatives Gebäude anbot und rund 100 bezugsfertige
Wohnungen für BundesrichterInnen freigehalten hatte.
## Richter*innen machen in Immobilien
Natürlich wurde nach der Wiedervereinigung noch einmal über den Standort
Karlsruhe diskutiert. Schließlich wäre nun ja auch ein Umzug des BGH nach
Leipzig möglich gewesen. Aber die RichterInnen hatten nun überwiegend
schöne Immobilien in Karlsruhe und Umland gekauft und deshalb wenig Lust,
noch einmal neu anzufangen. Das konnten die RichterInnen aber nicht laut
sagen.
Die Rückkehr in das alte Reichsgericht nach Leipzig galt vielmehr als
„unzumutbar“ – wegen der Unrechtsjustiz im Faschismus. Jetzt residiert do…
das Bundesverwaltungsgericht.
Mit dem BGH kam 1950 auch die Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe. In
strafrechtlichen Revisionsverfahren spielt sie die Rolle der
Staatsanwaltschaft. Daneben leitet sie in wenigen, aber spektakulären
Feldern auch die Ermittlungen der Polizei: wenn es um Terror, Spionage und
Kriegsverbrechen geht.
Seit 1998 hat die Bundesanwaltschaft ein eigenes Gebäude in Karlsruhe, es
wirkt wie ein helles, mediterranes Hotel, allerdings hinter hohen und
breiten Mauern.
## Geplantes Rechtsstaatsmuseum
Für die brave Beamtenstadt Karlsruhe ist die Rolle als Ort der Bundesjustiz
wichtig – nachdem es das Herzogtum Baden nicht mehr gibt und im neuen Land
Baden-Württemberg Stuttgart die erste Geige spielt. „Karlsruhe“ steht nun
bundesweit als Synonym für den Rechtsstaat. Dazu gehört auch der Plan, in
Karlsruhe ein interaktives Rechtsstaatsmuseum mit bundesweiter Ausstrahlung
zu bauen, das „Forum Recht“. Es gibt schon Gremien, ein Gesetz und eine
Stiftung. Wenn der Rechtsstaat so lange durchhält, soll er ab etwa 2030 in
Karlsruhe auch pädagogisch verteidigt werden.
Leider war Karlsruhe auch eine Stadt des linken Terrors gegen den
Rechtsstaat. Es begann im Jahr 1975 mit einem Bombenanschlag auf das
Bundesverfassungsgericht. Eine Woche nachdem die Richter die
fortschrittliche Fristenregelung für Schwangerschaftsabbrüche verboten
hatten, zündeten die „Frauen aus den Revolutionären Zellen“ (die sich
später Rote Zora nannten) einen Sprengsatz, der Sachschaden anrichtete.
Im Jahr 1977 starben dann Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei
Begleiter im Kugelhagel eines RAF-Kommandos.
Kurze Zeit später scheiterte ein RAF-Anschlag auf die Bundesanwaltschaft.
Mit einem Flächenschussgerät vom Typ „Stalinorgel“ sollte von einem Haus
gegenüber ein Blutbad angerichtet werden.
An diese Zeit erinnern vor allem die immer noch hohen
Sicherheitsvorkehrungen in Karlsruhe.
14 Mar 2021
## LINKS
[1] /Klimaklage-beim-Verfassungsgericht/!5653908
[2] /Entscheidung-des-Verfassungsgerichts/!5677732
## AUTOREN
Christian Rath
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Karlsruhe
Tschechien
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Mannheim
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