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# taz.de -- Neues Buch von Haruki Murakami: Seltsame Schwerelosigkeit der Welt
> In „Erste Person Singular“ lässt Murakami eigene Erinnerungen aufleben.
> Die Erzählungen wechseln dabei zwischen Realität und Fiktion.
Bild: Der aus Japan stammende Autor Haruki Murakami, 2018
[1][Haruki Murakami] scheint sich in allen literarischen Formen
gleichermaßen wohl zu fühlen. Mit dickleibigen Romanen hat er die lesende
Welt beglückt, produziert aber mit großer Selbstverständlichkeit auch, wie
in seinem neuesten Buch, Kurzgeschichten, die an der Oberfläche so wirken,
als würde da einer nur völlig unangestrengt aus seinem Leben plaudern.
Außerdem schreibt, oder vielmehr schrieb, Murakami auch Gedichte.
Baseballgedichte. Sehr wahrscheinlich.
Mindestens vier Baseballgedichte hat er auf jeden Fall verfasst, denn sie
sind in diesem Buch – in der Erzählung „Gesammelte Gedichte über die Yaku…
Swallows“ – abgedruckt, die davon handelt, dass der Ich-Erzähler in den
siebziger Jahren beim Baseballgucken im Stadion Gedichte schrieb, diese als
Büchlein im Eigenverlag herausbrachte und viele Exemplare, da sie sich
nicht gut verkauften, an Freunde und Bekannte verschenkte. Heute seien die
wenigen noch erhaltenen Exemplare dieses Gedichtbandes sehr viel wert.
Murakami-ExpertInnen werden wohl wissen, ob es dieses Buch mit
Baseballgedichten tatsächlich gab. Kann gut sein; kann ebenso gut aber auch
nicht sein. Es gibt genug in dieser hintersinnig mit „Erste Person
Singular“ betitelten Textsammlung, das uns wiederholt daran erinnert, die
Wahrheiten, die zwischen zwei Buchdeckeln stehen, nicht als deckungsgleich
mit der Realität anzunehmen, sondern vielmehr als narrative Möglichkeiten
zu betrachten.
Das Erzähler-Ich dieser Geschichten ist stets dasselbe: es heißt Haruki
Murakami. In erster Person Singular erzählen die Texte von Menschen und
Geschehnissen aus der [2][Vergangenheit dieses Haruki Murakami], und oft
liegt diese Vergangenheit schon so weit zurück, dass insgesamt durchaus der
Eindruck entsteht, dass ein alternder Literat hier vor allem das Genre der
autobiografischen Jugenderinnerung pflege. Oder eben sehr kunstvoll das
pflegt, was sich aus einer Erinnerung machen lässt.
## Viele der Erzählungen haben mit Musik zu tun
Wer, wie die meisten Menschen, über ein lediglich durchschnittliches
Gedächtnis verfügt, weiß, dass von Ereignissen, die Jahrzehnte
zurückliegen, schlaglichtartige Szenen, Stimmungen, auch einzelne
Dialogzeilen im Hirn hängen bleiben, meist aber keine größeren,
zusammenhängenden narrativen Strukturen. Murakami macht in diesen
Erzählungen aus erhaltenen Fragmenten Literatur; mit den Mitteln, die
dieser eben zur Verfügung stehen, darunter dem der demonstrativen Mischung
von Realität und Fiktion.
Viele Erzählungen haben mit Musik zu tun, und die wundersamste von ihnen
heißt „Charlie Parker Plays Bossa Nova“. Sie kolportiert einen Text, den
der Erzähler als Student für eine obskure Literaturzeitschrift geschrieben
habe: die Besprechung einer Platte mit dem Titel „Charlie Parker Plays
Bossa Nova“, die im Jahr 1963 erschienen sei.
Diese Plattenkritik – von der große Teile in der Erzählung wiedergegeben
werden – sei vom Redakteur unkritisch als solche ins Blatt genommen worden,
ohne dass er durchschaut habe, dass es sich gar nicht um eine echte Kritik
handelte. ([3][Charlie Parker] war bereits 1955 gestorben, der Bossa Nova
aber entstand erst in den Jahren danach.)
Viele Jahre später, geht die Geschichte weiter – und das ist ein in diesem
Buch oft wiederkehrendes Element: der Widerhall von Ereignissen auf weit
entfernten Zeitebenen –, gerät der Ich-Erzähler in einen New Yorker
Plattenladen, in dem er tatsächlich eine Platte mit dem Titel „Charlie
Parker Plays Bossa Nova“ findet; sogar mit einem Verzeichnis aller Tracks,
deren Titel er sich einst selbst ausgedacht hatte …
## Auf der Parallelschiene zur Realität
Dass der Erzähler nicht geistesgegenwärtig genug ist, diese Platte sofort
zu kaufen, ist einerseits merkwürdig, andererseits aber ein deutliches
Zeichen dafür, dass sich die Erzählung hier auf einer Parallelschiene zur
Realität bewegt.
Ein weiteres typisches Verfahren: In der kleineren Erzählung „Crème da la
Crème“, die davon handelt, wie der jugendliche Ich-Erzähler einst von einem
Mädchen zu einem privaten Klavierkonzert eingeladen wurde, das aber gar
nicht stattfand, wird diese an sich unspektakuläre Begebenheit zu einem
Ereignis von surrealer Unerklärlichkeit.
Der einsame Weg zum angeblichen Konzertsaal, das akustische Ereignis eines
vorbeifahrenden Reklameautos, die zufällige Begegnung mit einem alten Mann,
der dem jungen Mann eine unlösbare Frage stellt – all das summiert sich
atmosphärisch zu einer Erzählung, in der die Realität so mystisch überhöht
erscheint, wie sie es manchmal eben tut, wenn man nur jung genug dafür ist.
(Oder wenn man alt genug ist, verklärend auf seine Jugend zurückzublicken
…?)
Und oft sind die Dinge, vor allem die Menschen, ganz einfach nicht, was sie
scheinen. Exemplarisch dafür steht die titelgebende Geschichte „Erste
Person Singular“. Darin zieht der Erzähler ausnahmsweise seinen besten
Anzug an, um diesen einmal auszuführen, und wird in einer Bar beim
friedlichen Cocktailtrinken von einer unbekannten Frau aggressiv
beschimpft.
Die offensichtliche Erklärung – dass die Frau ihn für einen anderen hält �…
scheint der Erzähler nicht einmal zu erwägen; stattdessen verunsichert ihn
die Begegnung nachhaltig. Und vielleicht liegt genau darin das Geheimnis
dieser so seltsam schwerelos wirkenden und doch gleichzeitig ziemlich
existenzielle Fragen berührenden Erzählungen: Solange wir nichts als
gegeben hinnehmen, werden wir immer wieder von Neuem zutiefst von der Welt
überrascht werden. [4][Murakami lesend], scheint es fast so, als sei nichts
leichter als das.
8 Feb 2021
## LINKS
[1] /Neues-Buch-von-Haruki-Murakami/!5502944
[2] /Murakami-Verfilmung-Burning/!5598299
[3] /100-Geburtstag-von-Charlie-Parker/!5704605
[4] /Literatur-von-Hakuri-Murakami/!5049425
## AUTOREN
Katharina Granzin
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