Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Grenzschließungen wegen der Pandemie: Schlagbaum-Politik
> Deutschland kontrolliert wieder Teile seiner Grenzen. Sinnloser
> Aktionismus, verständliche Notmaßnahme – oder schlicht unlösbares
> Dilemma?
Bild: Waidhaus, Bayern: Polizisten kontrollieren kurz hinter der deutsch-tschec…
Da lässt Deutschland von einem Tag auf den anderen nur mehr ausgewählte
Menschen aus Tschechien und dem österreichischen Bundesland Tirol ins Land
reisen. Wer nicht gerade in „systemrelevanten“ Berufen wie im Pflegeheim
oder als Lkw-Fahrer tätig ist, wer keine Anmeldung vorweisen kann oder den
negativen Coronatest vergessen hat, wer einfach nur die Nachbarn und
Freunde besuchen möchte, der hat keine Chance. Er oder sie muss umkehren.
Der Zugverkehr ist gestoppt, Busse fahren ohnehin nicht mehr.
Man kann die Sache so bewerten: Die Bundesrepublik [1][verstößt mit diesem
Grenzregime gegen den freien Personen- und Warenverkehr in der EU].
Innenminister Horst Seehofer (CSU) begeht einen eklatanten Vertragsbruch.
Die europäische Idee nimmt schwersten Schaden, ja, die Bundesrepublik
demontiert damit einen Grundpfeiler der europäischen Einigung.
Sie sät neue Ressentiments gegen die Nachbarn, bringt zudem deutsche
Handwerksbetriebe und den Mittelstand, die in der Grenzregion auf die
Pendler angewiesen sind, in Existenznöte und gefährdet die pünktliche
Warenlieferung für die Industrie. Die Maßnahme ist zudem sinnlos, denn das
Virus schert sich nicht um Grenzen. Eine Katastrophe. Ja, sind die denn vom
Schlagbaum getroffen worden?
Man kann das aber auch ganz anders betrachten. Wie als mit Grenzkontrollen
sollen bayerische Grenzlandkreise wie Tirschenreuth jemals wieder auf nur
halbwegs erträgliche Inzidenzzahlen in der Pandemie kommen? Nur diese
Kontrollen können verhindern, dass infizierte Personen aus dem Nachbarkreis
Cheb Covid-19 immer weiter verbreiten.
## Ein klassisches Dilemma
Dort liegt die Inzidenz von mit dem Coronavirus infizierten Menschen bei
über 1.000 auf 100.000 Personen. Als Tirschenreuth im Frühjahr gegenüber
deutschen Nachbarkreisen isoliert wurde, gab es auch keinen Aufschrei der
Empörung. In Tirol sind die Zahlen zwar niedriger, aber dort grassiert die
gefährliche südafrikanische Mutante und droht nach Deutschland
überzuspringen.
Sollten wir nicht alles versuchen, um diese Entwicklung wenigsten zu
verlangsamen, bis mehr Menschen geimpft sind? Die Bundesrepublik handelt
nicht gegen den europäischen Geist, es geht schlicht um eine gut begründete
Notmaßnahme in Zeiten der größten weltweiten Krise seit Jahrzehnten.
Das Dumme ist: Beide Positionen, die für die offene Grenze und die dagegen,
haben etwas für sich. So etwas nennt man ein Dilemma. Unternimmt man
nichts, ist es falsch. Tut man etwas, ist es auch nicht richtig. Ehrlich
gesagt: Ich weiß auch nicht, was der bessere Weg ist, nur, dass beide
schlimm sind.
Allerdings lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie es überhaupt zu diesem
Dilemma kommen konnte und ob es nicht Wege und Möglichkeiten gibt, um
künftig aus einer solchen Zwickmühle herauszufinden, bevor diese überhaupt
eingetroffen ist.
Die Europäische Union ist ein seltsames Wesen. Für Grenzen, Waren- und
Personenverkehr, Zölle und Handelsverträge fühlt sie sich zuständig. Für
Gesundheitspolitik eher weniger, es sei denn, es handelt sich um
Warnhinweise auf Zigarettenpäckchen. Deshalb verfolgt in der Pandemie jedes
Land seine eigenen Vorstellungen.
In Tschechien zum Beispiel erklärte ein Premier im letzten Sommer die
Coronakrise für beendet und lud zur großen Sause ein. In Deutschland sind
derzeit fast alle Geschäfte geschlossen, in Österreich nicht. In Frankreich
werden Ausgangssperren verhängt, während kurz zuvor in Belgien noch
Volksfeste veranstaltet werden durften. Jeder macht, was er für richtig
hält, auch wenn es bisweilen grundfalsch ist. Aber das liegt bekanntlich im
Wesen des Nationalstaats.
## Transnationale Institutionen stärken
Wenn also im tschechischen Cheb besonders viele Menschen an Covid-19
erkranken, dann liegt das offensichtlich an der Politik in Prag, und nicht
an der aus Brüssel. Die gibt es nämlich gar nicht. [2][Wenn es aber eine
solche europäische Gesundheitspolitik gäbe], könnte man sich auf gemeinsame
Grenz- und Warnwerte sowie koordinierte Schritte gegen eine Ausbreitung der
Pandemie einigen, unabhängig von den Binnengrenzen.
Damit ist nicht gesagt, dass dann alles besser würde, denn
selbstverständlich könnten sich die EU-Gesundheitspolitiker auch auf
falsche oder ungenügende Maßnahmen verständigen, auf den berühmten
kleinsten gemeinsamen Nenner also, der in diesem Fall nicht hilfreich sein
dürfte, wie aus diversen Runden bundesdeutscher Ministerpräsidenten
bekannt. Aber eine Chance wäre es doch, eine Riesenchance, nicht mehr starr
nach Neuseeland und Australien – ja, das sind Inseln und der Vergleich
hinkt – zu schauen, sondern im Rahmen der Möglichkeiten auf unserem
Kontinent gemeinsam zu handeln.
Und deshalb lautet die Lehre aus dem Dilemma an den Grenzen: Europäische
transnationale Institutionen müssen gestärkt werden, damit nicht nur
überall derselbe Warnhinweis auf Zigarettenpäckchen steht, sondern damit
die Europäische Union gemeinsam Pandemien bekämpfen kann. Denn Viren kennen
bekanntlich keine Grenzen.
Ja, das ist Wolkenkuckucksheim, unrealistisch, nicht zu machen, schon gar
nicht mit diesen undemokratischen Strukturen in Brüssel. Alles richtig.
Aber wie wäre es, es trotzdem zumindest einmal zu versuchen, und sei es für
die nächste Pandemie?
16 Feb 2021
## LINKS
[1] /Grenzschliessungen-in-der-EU/!5747091
[2] /Corona-in-der-EU/!5660050
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Europäische Union
Grenzkontrollen
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Grenze
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Deutsche Grenzkontrollen zu Tschechien: Die Ausgegrenzten
Pavel Kopřiva lebt in Zittau, seine Arbeiter kommen nicht mehr. Lokführer
müssen ihre Züge stoppen. Lkw-Fahrer nehmen große Umwege in Kauf. Bericht
von der deutsch-tschechischen Grenze.
Grenzen zu Österreich und Tschechien: Fast ganz dicht
An manchen Grenzen führen BundesbeamtInnen Kontrollen durch. Wegen Corona
darf nur rein, wer systemrelevant ist oder wegen humanitärer Notfälle
reist.
Nach Äußerungen zur Coronastrategie: Starke Kritik an Laschet
SPD und Grüne sind verärgert über Aussagen des CDU-Vorsitzenden. Laschet
hatte gegen den Coronakurs von Bund und Ländern gepoltert.
Grenzschließungen in der EU: Ein Versagen von Berlin und Brüssel
Deutschland schließt wegen mutierter Coronaviren einen Teil seiner Grenzen.
Dieser Alleingang ist ein klarer Verstoß gegen EU-Absprachen.
Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Ärger um deutsche Grenzkontrollen
Österreich protestiert beim deutschen Botschafter gegen Grenzkontrollen. An
der deutsch-tschechischen Grenze staut sich der Verkehr. Auch Frankreich
sorgt sich.
Reisefreiheit in Coronakrise: Endlich grenzenlose Liebe?
Binationale Liebespartner:innen leben in der Coronakrise getrennt. Das
Innenministerium lockert die Regelungen jetzt – doch manche Probleme
bleiben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.