# taz.de -- Flüchtlingspolitik in Niedersachsen: Schulden bis zur Rente | |
> Der Flüchtlingsrat kritisiert weitreichende Abtretungserklärungen. Mit | |
> denen sichern sich Städte die überhöhten Gebühren für die Unterkünfte. | |
Bild: Für diese Unterbringung kann auch die Rente oder das Kindergeld gepfänd… | |
HANNOVER taz | 930 Euro für einen Schlafplatz im Doppelzimmer – erst in der | |
vergangenen Woche standen die horrenden Gebühren für manche | |
Flüchtlingsunterkünfte wieder in der Kritik. Der Satz der Gemeinde | |
[1][Hemmingen ist ein Extrembeispiel, aber bei weitem nicht das einzige]. | |
Weil die Kommunen versuchen, die Kosten für die eilig aus dem Boden | |
gestampften Unterkünfte schnell wieder reinzuholen, ist das Wohnen dort um | |
ein Vielfaches teurer als jede ortsübliche Vergleichsmiete. Das geht, weil | |
es rechtlich eben um Nutzungsgebühren geht – und nicht um Mietzahlungen. | |
Bei den Recherchen zum Thema ist der Flüchtlingsrat Niedersachsen | |
allerdings noch über einen anderen Aspekt gestolpert: Offenbar versuchen | |
manche Kommunen – genannt werden Hannover und Nordhorn – auch noch, | |
Geflüchtete dazu zu bringen, dass sie Abtretungserklärungen unterschreiben, | |
die ungewöhnlich weitreichend sind. | |
„Mit diesen Abtretungserklärungen lassen sich die Kommunen 'alle | |
bestehenden und künftigen Einkommensansprüche’ der Bewohnenden – | |
beispielsweise gegenüber Arbeitgeber, der Agentur für Arbeit bzw. dem | |
Jobcenter, der Krankenkasse oder der Rentenversicherung – übertragen, um – | |
vermeintliche – Gebührenschulden für die Unterbringung 'unter Ausschaltung | |
der Pfändungsfreigrenze’ direkt von den benannten Stellen einfordern zu | |
können“, schreibt der Flüchtlingsrat. | |
## Pfändungsgrenzen gelten hier nicht | |
Und dies offenbar selbst wenn der Gebührenbescheid angefochten wurde und | |
noch gar nicht gerichtlich geklärt wurde, ob er gültig ist. Die Stadt | |
Hannover lässt sich jedenfalls in dieser Abtretungserklärung sogar die | |
Forderungen „dem Grunde und der Höhe nach“ anerkennen. | |
Die Kommunen berufen sich dabei auf eine Rechtssprechung, die besagt, dass | |
die Pfändungsgrenzen dann nicht gelten, wenn es um Ansprüche geht, die aus | |
einer unmittelbaren wirtschaftlich gleichwertigen Gegenleistung resultieren | |
– also zum Beispiel der Zurverfügungstellung von Wohnraum zur Vermeidung | |
von Obdachlosigkeit. | |
Die Stadt Nordhorn hat ihre Abtretungserklärung außerdem um einen Passus | |
ergänzt, in dem steht, dass alles, was in dem Zimmer gefunden wird, als | |
Müll auf Kosten des Betroffenen entsorgt werden darf. | |
Wörtlich steht da: „dass alle Gegenstände, die nach meinem Auszug aus der | |
Gemeinschaftsunterkunft / nachdem ich die Gemeinschaftsunterkunft aus | |
welchem Grund auch immer verlassen habe, noch in der Unterkunft vorhanden | |
sind, Abfall darstellen, der auf meine Kosten entsorgt werden kann“. Der | |
Flüchtlingsrat bezeichnet das als „kalte Enteignung“. | |
## Zurückgelassenes wird als Müll entsorgt – und berechnet | |
Die Stadt Nordhorn verteidigt sich damit, dass diese Abtretungserklärungen | |
ganz selten Anwendung fänden. Und vor allem der Passus mit dem Müll gehe | |
auf die Erfahrung zurück, dass viele Bewohner von Obdachlosen- oder | |
Flüchtlingsunterkünften einfach verschwänden und die Zimmer zugemüllt | |
hinterließen. | |
Das vorgeschriebene Prozedere – Anschriftenermittlung, Aufforderung zur | |
Räumung, Anhörung mit Fristsetzung und schließlich Ersatzvornahme – sei | |
aber derart umständlich und langwierig, dass die Zimmer dann oft anderthalb | |
bis drei Monate leer ständen, obwohl sie doch dringend gebraucht würden, | |
erklärt ein Sprecher der Stadt auf taz-Anfrage. | |
Im Übrigen sei eine zügigere Abwicklung doch auch im Sinne der Betroffenen | |
– schließlich liefen ja sonst in diesen Monaten weitere Gebührenforderungen | |
auf. | |
Der Flüchtlingsrat rät trotzdem dringend davon ab, solche | |
Abtretungserklärungen zu unterschreiben. Er hält sie in dieser Form für | |
rechtswidrig, zumal sie auch häufig ohne ausreichende Erläuterungen und | |
Übersetzungen überreicht worden seien. | |
Aus Hannover gebe es sogar Berichte von Sozialarbeitern aus verschiedenen | |
Einrichtungen, die aufgefordert worden seien, solche Erklärungen einzuholen | |
– ohne dass ihnen selbst klar gewesen sei, wie weitreichend die sind, | |
erzählt Muzaffer Öztürkyilmaz vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. | |
## Stadt Hannover will das alles nicht so gemeint haben | |
Die Stadt Hannover sagt allerdings, es könne sich nur um wenige Einzelfälle | |
handeln. Die Abtretungserklärungen würden äußerst selten eingesetzt und | |
wenn, dann nur um die aktuellen Leistungen zum Beispiel vom Jobcenter | |
direkt einzukassieren und andere Vollstreckungsmaßnahmen wie | |
Gehaltspfändungen oder Ähnliches gerade zu vermeiden. Man biete dem | |
Flüchtlingsrat im Übrigen gern Gespräche dazu an. | |
Warum die Abtretungserklärung dann trotzdem so weitreichend formuliert ist | |
und weit über das hinausgeht, was sonst zwischen Jobcentern und Vermietern | |
üblich ist, ließ sich kurzfristig nicht klären. | |
Die migrationspolitische Sprecherin der Grünen im Landtag, Susanne Menge, | |
hat nun Innenminister Boris Pistorius (SPD) aufgefordert, sich des Themas | |
anzunehmen und seine Fachaufsicht auszuüben – und zwar sowohl was die hohen | |
Gebührensätze angeht, die je nach Kommune extrem unterschiedlich ausfallen, | |
als auch die kritisierten Abtretungserklärungen. | |
17 Feb 2021 | |
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[1] /Gebuehren-fuer-die-Unterkunft/!5746397 | |
## AUTOREN | |
Nadine Conti | |
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