| # taz.de -- Experte über Thomas Kemmerich: „Das Vertrauen war erschüttert“ | |
| > Seit einem Jahr regiert in Thüringen eine rot-rot-grüne Koalition mit | |
| > Unterstützung der CDU. Politikwissenschaftler André Brodocz zieht Bilanz. | |
| Bild: Nach dem Skandal: Die Linke kommunzierte ihre Empörung über Kemmerichs … | |
| taz: Herr Brodocz, vor einem Jahr wurde Thomas Kemmerich (FDP) mit Stimmen | |
| der AfD [1][zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt]. Nur einen Tag | |
| später trat er wieder zurück. Vier Wochen später der Kompromiss, | |
| Rot-Rot-Grün regiert seitdem als Minderheitsregierung mit Duldung der CDU. | |
| Können Sie ein Jahr nach dem sogenannten Dammbruch eine Bilanz ziehen? | |
| André Brodocz: Zunächst zeigt dieses Jahr, dass CDU und Linke auf | |
| Landesebene gemeinsam regieren können – trotz des | |
| Unvereinbarkeitsbeschlusses der CDU. Sprachpolitisch hat man diese Duldung | |
| der von der Linken geführten Landesregierung durch die CDU mit der | |
| Erfindung des „Stabilitätsmechanismus“ gelöst. | |
| Die Bundes-CDU duldet dies, was auch nach zukünftigen Wahlen, insbesondere | |
| in den ostdeutschen Bundesländern, neue Wege öffnet. Dass diese | |
| Zusammenarbeit in Thüringen letztlich gut funktioniert hat, war Anfang März | |
| nicht abzusehen. | |
| Warum nicht? | |
| Das Vertrauen zwischen den Parteispitzen der Linken, der SPD und der Grünen | |
| auf der einen Seite und der CDU auf der anderen Seite war nach der | |
| gemeinsamen Wahl von [2][Thomas Kemmerich] durch CDU, FDP und AfD | |
| erschüttert, wenn nicht zerbrochen. | |
| In gemeinsamer Arbeit haben es aber die Verantwortlichen in allen vier | |
| Parteien geschafft, dieses wieder aufzubauen. Auch dies schien im März sehr | |
| schwierig, weil sich ein Kompromiss über einen gemeinsamen Haushalt | |
| angesichts der knappen Thüringer Kassen als äußerst kompliziert | |
| abzeichnete. Es drohte eine Regierungskrise, die dank der Coronakrise dann | |
| nicht aufgetreten ist. | |
| Die Coronakrise als Motor der Parteienzusammenarbeit? | |
| Ja, denn jede Partei konnte ihre Vorstellungen von den richtigen | |
| finanziellen Hilfen verwirklichen. Das Coronahilfspaket aus dem Frühjahr | |
| 2020 wuchs in den Verhandlungen auf 1,2 Milliarden Euro und schluckte | |
| weitgehend die Rücklagen des Freistaats. Der gemeinsam beschlossene | |
| Haushalt für 2021 war dann ein Kompromiss, der auf neuen Schulden von circa | |
| 1,5 Milliarden beruht. | |
| Dabei war die Politik des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zwischenzeitlich | |
| durchaus umstritten. Finden Sie, die Regierung hat das Bundesland gut durch | |
| die Krise gebracht? | |
| Insgesamt hat sie das so gut und so schlecht gemacht wie die anderen | |
| Landesregierungen. Für das Coronakrisenmanagement war die besondere | |
| Konstruktion einer Duldung durch die CDU kein Hindernis. Geknirscht hat es | |
| eher in der Koalition, wenn Bodo Ramelow ein paar Tage vor | |
| Kabinettssitzungen mit eigenen Vorstellungen an die Öffentlichkeit gegangen | |
| war, ohne dies vorher mit den Partnern bei der SPD und den Grünen | |
| abzustimmen. | |
| Für die CDU war es also ein ungewöhnlicher Schritt, eine rot-rot-grüne | |
| Regierung zu dulden. Hat die CDU in Thüringen sich dadurch der Linkspartei | |
| angenähert, um die Brandmauer zur AfD aufrechtzuerhalten? | |
| Ich denke nicht, dass sich die CDU in dieser Zeit programmatisch der Linken | |
| angenähert hat. Mehr als jede andere Partei in Deutschland ist die CDU eine | |
| Partei, die sich als Regierungspartei versteht. Der Thüringer Sonderweg ist | |
| nur eine weitere Variante, mit der die CDU Chancen verbindet, wieder in die | |
| Regierung zurückzukehren. Schließlich arbeitet sie derzeit nicht nur mit | |
| der Linken, sondern auch mit den Grünen und der SPD zusammen – alles | |
| potenzielle Koalitionspartner in der Zukunft. | |
| Auch die Brandmauer zur AfD wird von diesem Kalkül bestimmt. Die | |
| vermeintlich „zufällige“ Zusammenarbeit mit der AfD bei der Wahl von | |
| Kemmerich hat die CDU in den nachfolgenden Umfragen Zustimmung gekostet. | |
| Dass die Bürgerinnen und Bürger dies bei der nächsten Wahl wieder erwarten | |
| könnten, will man mit der Brandmauer ausschließen. | |
| Die für April geplanten Landtagswahlen wurden kürzlich aufgrund der | |
| Coronakrise [3][auf den September verschoben], obwohl der vereinbarte | |
| Stabilitätsmechanismus [4][im Dezember auslief] und der Landtag eigentlich | |
| aufgelöst werden sollte. Kann die Regierung in Thüringen sich bis zum | |
| Herbst halten? | |
| Davon gehe ich derzeit aus. Wenn man sich heute wieder auf einen neuen | |
| Stabilitätsmechanismus einigt, der auch wieder einen neuen Landeshaushalt, | |
| für 2022, umfassen soll, wird dies auch bis September funktionieren. | |
| Aktuelle Umfragewerte weisen darauf hin, dass sich das Wahlergebnis von | |
| 2020 bei der Landtagswahl wiederholen könnte. Was dann? | |
| Zunächst droht uns eine Wiederholung langer Verhandlungen darüber, wer die | |
| neue Regierung bildet. Die Thüringer Verfassung sieht leider keine Fristen | |
| dafür vor. In anderen Bundesländern kommt es automatisch zu Neuwahlen, wenn | |
| nach einigen Wochen keine neue Regierung gewählt ist. Anders als zuletzt | |
| wird eine Duldung durch die CDU von Anfang an eine Option sein. | |
| Allerdings kann es für eine Mehrheit ausreichen, wenn die Linke allein die | |
| Minderheitsregierung stellt – also ohne SPD und Grüne – und dann von der | |
| CDU toleriert wird. Dann hätten wir auch wieder mehr Vielfalt auf den | |
| Oppositionsbänken im Thüringer Landtag – was der politischen Kultur im | |
| Freistaat sicher guttun würde. | |
| Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die Linke in Thüringen erneut | |
| regieren wird? | |
| Nach den aktuellen Umfragen wird die Linke wieder stärkste Partei werden. | |
| Bodo Ramelow genießt parteiübergreifend große Zustimmung, sodass die Linke | |
| davon wieder profitieren wird. Abzuwarten bleibt, wie sich die | |
| gleichzeitige Wahl des Bundestags auf das Thüringer Wahlverhalten auswirken | |
| wird. Gerade die CDU und die Grünen könnten hier von dem Bundestrend | |
| profitieren – was zulasten der Linken ausgehen könnte. Dennoch wird es | |
| wohl im Herbst keine Regierung in Thüringen ohne die Linke geben können. | |
| 5 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sarah Ulrich | |
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