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# taz.de -- Experte über Kinderrechte: „Mit Kindern wird Pingpong gespielt“
> Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, kämpft seit langem für
> Kinderrechte im Grundgesetz. Die sollen nun kommen, aber er ist
> unzufrieden.
Bild: Das Kindeswohl beinhaltet das Mitspracherecht von Kindern
taz: Herr Hilgers, Sie fordern seit Jahrzehnten, Kinderrechte im
Grundgesetz zu verankern. Nun haben sich [1][Union und SPD] darauf
verständigt, genau das zu tun. Sind Sie am Ziel?
Heinz Hilgers: Nein. Der Vorschlag ist nicht gut, das ist reine
Symbolpolitik.
Warum?
Das sind keine echten Kinderrechte. Es beginnt schon beim ersten Satz der
Einigung, der Artikel 6 in der Verfassung ergänzen soll: „Die
verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf
Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu
schützen.“ Diese Rechte der Kinder ergeben sich bereits aus Artikel 2 des
Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen
die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Das, was beschlossen worden ist, gilt längst?
Ja. Darüber hinaus soll, so steht es jedenfalls in dem Entwurf, das
Kindeswohl künftig nur noch angemessen berücksichtigt werden. Es muss aber
umfassend berücksichtigt werden.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Als ich 1979 Jugendamtsleiter im Erftkreis wurde, war es sehr schwierig,
Kinder bei Auseinandersetzungen in der Familie Inobhutnahme zu nehmen.
Also ein Kind, wenn es misshandelt und missbraucht wurde, aus der Familie
zu nehmen.
Damals wurden Kinder nur bei Gefahr für Leib und Leben, wie es damals
genannt wurde, [2][aus der Familie genommen].
Misshandlung und Missbrauch sind eine große Gefahr für Leib und Leben.
In jedem Fall. Deshalb ist das heute auch eine feste Größe, wenn es um
Kindeswohlgefährdung geht.
Wie definiert man heute Kindeswohlgefährdung?
Wenn [3][elementare Bedürfnisse eines Kindes dauerhaft nicht erfüllt sind,]
es sich physisch, seelisch und emotional nicht frei entwickeln kann.
Und was heißt hier dauerhaft?
Wenn ein Kind zwar nicht täglich, aber doch regelmäßig vernachlässigt oder
misshandelt wird oder auf andere Weise in seiner Entwicklung behindert ist,
ist das Kindeswohl in Gefahr. Die Bandbreite ist sehr groß, sie reicht
v[4][om sogenannten Klaps bis hin zu heftiger Gewalt]. Wenn so etwas
bekannt wird, müssen Behörden reagieren.
Wie?
Der Person, in den meisten Fällen ist das der Vater, muss Hilfe angeboten
werden.
Das Kind soll nicht aus der Familie genommen werden?
Zuallererst sollten die Eltern Hilfe bekommen. Ich halte nichts davon,
Kinder zu schnell aus der Familie zu nehmen, Kinder sind in der Regel in
der Familie am besten aufgehoben. Aber sie haben das Recht auf eine
gewaltfreie Entwicklung. Und wenn – bleiben wir bei dem Beispiel – der
Vater Hilfe ablehnt oder bei einer Therapie nicht mitmacht, sollte darüber
nachgedacht werden, ihm das Aufenthaltsbestimmungs- oder das Sorgerecht für
das Kind abzuerkennen. Zumindest temporär.
Es gibt aber nicht ausreichend Hilfsangebote, vor allem nicht für
gewalttätige Männer.
Es gibt Kommunen, die sind komplett kaputtgespart, dort fehlt es an allem,
insbesondere an Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Es gibt aber auch
Kommunen, die eine gut funktionierende Präventionskette haben, angefangen
bei frühen Hilfen in der Schwangerschaft über Angebote der Jugend- und
Gesundheitsämter bis hin zur Polizei und den Jobcentern.
Was haben die Jobcenter damit zu tun?
Wenn eine schwierige Familie auf dem Weg der Stabilisierung ist, kann es
kontraproduktiv sein, beispielsweise Zuwendungen zu kürzen oder bestimmte
Maßnahmen durchdrücken zu wollen. Wissen Sie, was dabei am dramatischsten
ist?
Was?
Städte, die die größten sozialen Probleme haben, sind finanziell am
schlechtesten ausgestattet. Die haben meist sehr geringe Steuereinnahmen
und hohe Sozialausgaben.
Bedingt das eine nicht das andere?
Es ist ein tödlicher Kreislauf. Der nur mit größtmöglichem Mut zu lösen
ist.
Was heißt das?
Man muss in den Konflikt mit den Haushaltsbehörden gehen.
Nach dem Motto: Wir haben zwar kein Geld, geben es aber trotzdem für
Prävention aus?
Genau. Der Verzicht auf Prävention ist am Ende teurer als die Prävention
selbst. Eine Heimunterbringung für Kinder und Jugendliche beispielsweise
kostet eine Kommune mehr Geld, als eine Familie von Grund auf zu
unterstützen.
Am Ende ist damit allen am ehesten geholfen?
Es geht, um das an dieser Stelle zu wiederholen, ums Kindeswohl. Das muss
in der Gesellschaft vorrangige Stellung haben.
Das Kindeswohl beinhaltet das Mitspracherecht von Kindern. Das kann man
breit auslegen.
Machen wir es wieder an einem Beispiel deutlich. Ein Kind, das jahrelang in
einer Pflegefamilie gelebt hat, soll zu seinen leiblichen Eltern zurück.
Nun will das Kind aber gar nicht mehr zurück, weil es sich in der
Pflegefamilie wohlfühlt und dort bleiben will. Dieser Wunsch des Kindes
sollte berücksichtigt werden.
Ist das nicht selbstverständlich?
Nicht in jedem Fall. Vielfach spielt die biologische Verbindung zwischen
Kind und Eltern eine größere Rolle als das Kindeswohl. Es gibt viele Fälle,
bei denen mit Kindern regelrecht Pingpong gespielt wird. Die wandern von
einer Pflegefamilie zur nächsten, das hat für sie enorme psychische Folgen.
Weswegen sich die Pflegefamilien irgendwann mit den Kindern überfordert
fühlen. Dann kommen die Kinder in ein Heim, was es für sie noch
dramatischer macht. Und am Ende landen sie in der Kinder- und
Jugendpsychiatrie.
Sie sagen, auch Babys sollen ein Mitspracherecht haben. Wie soll das gehen?
Durch Beobachtung. Wenn ein Baby beispielsweise aus einer gewalttätigen
Familie herausgenommen wurde, sich die Familie stabilisiert hat und das
Baby wieder zurücksoll, aber beim ersten Treffen strampelt, schreit und
weint, kann es nicht zurück. Die Reaktion des Babys ist doch deutlich, dass
es das nicht will.
Aber wenn sich die Familie doch stabilisiert hat?
Dann muss es vorsichtige, sukzessive Aufbauarbeit geben, gemeinsam mit dem
Kind, den leiblichen Eltern und der Pflegefamilie. Kinder und Erwachsene
sind immer Erziehungspartner:innen, egal wie Kinder und Erwachsene
biologisch oder sozial miteinander verbunden sind. Wer Kindeswohl ernst
nimmt, muss den Willen von Kindern ernst nehmen.
13 Jan 2021
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## AUTOREN
Simone Schmollack
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