# taz.de -- Teststrategie in der Pandemie: Wie Tübingen Corona meistert | |
> Die schwäbische Stadt Tübingen setzt auf kostenlose Schnelltests und | |
> Extramaßnahmen für Ältere – und kommt vergleichsweise gut durch die | |
> Pandemie. | |
Bild: Schlangen in Schwaben: DRK-Coronateststation auf dem Tübinger Marktplatz | |
BERLIN taz | Die schwäbische Vorzeigeidylle Tübingen macht alles richtig, | |
so scheint es. Mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen und vielen Tests | |
versucht die Stadt in Baden-Württemberg besonders alte Menschen in der | |
[1][Coronakrise] zu schützen. Und das scheint tatsächlich zu funktionieren. | |
Zwar liegt die 7-Tage-Inzidenz in der Stadt in etwa so hoch wie im | |
Bundesschnitt, doch die Krankenhäuser sind in Tübingen vergleichsweise | |
leer. Derzeit werden nur zehn Patient:innen auf der Intensivstation des | |
Uniklinikums behandelt. Ist der „Tübinger Weg“ ein Konzept, das auch der | |
Rest Deutschlands aufgreifen könnte? | |
Tübingen schützt seine ältere Bürger:innen unter anderem dadurch | |
zusätzlich, dass sie kostenlos Masken erhalten und vergünstigt mit dem Taxi | |
fahren können. Bürgermeister Boris Palmer (Grüne) appellierte zudem an | |
Bürger:innen unter 65, vormittags die Supermärkte den Senior:innen zu | |
überlassen. „Das lässt den Älteren einen geschützten Raum“, so Palmer z… | |
taz. „Wir sind bisher gut durch die zweite Welle gekommen.“ Es müsse Ziel | |
sein, zu verhindern, „dass die Pandemie auf die Alten durchschlägt“. | |
Das, was in Tübingen aber wohl wirklich den Unterschied macht, hat vor | |
allem mit Lisa Federle zu tun, der Präsidentin des Roten Kreuzes (DRK) in | |
der Stadt. Ihr Plan: so viel wie möglich testen. Am Telefon erzählt sie: | |
„Vor dem Besuch bei älteren Verwandten sollen die Menschen kostenlos und | |
spontan einen Schnelltest machen können.“ So sollen die Senior:innen vor | |
der Ansteckung geschützt werden. Wobei Federle betont, dass trotzdem auf | |
die Abstandsregeln geachtet und Maske getragen werden solle. | |
## Misstrauen gegen Schnelltests | |
Umgesetzt wird die Teststrategie nun etwa auf dem Tübinger Marktplatz mit | |
einem Testzentrum des DRK. An jedem Werktag werden dort laut Federle rund | |
200 Schnelltests durchgeführt. Solche Angebote gibt es in anderen Städten | |
zwar auch, allerdings müssen die Getesteten dort in der Regel bezahlen. In | |
Tübingen nicht. Auch in dortigen Pflege- und Altenheimen werden Personal, | |
Bewohner:innen und Besucher:innen besonders oft getestet, um das Virus von | |
den Einrichtungen fernzuhalten. Und hier kommen neben den regulären | |
PCR-Tests seit Herbst auch Schnelltests zum Einsatz. | |
Sucht man nach Gründen dafür, dass Tübingens Strategie bisher andernorts | |
nicht adaptiert wurde, stößt man schnell darauf, dass die Behörden nicht | |
überall den [2][Schnelltests] so viel Vertrauen entgegenbringen wie in der | |
schwäbischen Studentenstadt. Ein Sprecher der Hamburger Sozialbehörde | |
verweist etwa darauf, dass die Tests schlicht nicht verlässlich genug | |
seien, um damit die breite Bevölkerung anlasslos zu testen. | |
Auch in anderen Kreise glaubt man, dass die Schnelltests der Bevölkerung | |
falsche Sicherheit vorgaukeln könnten, etwa im Neckar-Odenwald-Kreis in | |
Baden-Württemberg. Dessen Landrat Achim Brötel sagt der taz: „Wir fürchten, | |
die Menschen könnten gerade direkt vor Weihnachten negative Testergebnisse | |
als Freifahrtschein missverstehen.“ Dafür sei die Fehlerquote der Tests | |
aber zu hoch. Auch der Verband der Medizinlabore und der Berufsverband | |
Deutscher Laborärzte warnten im September aus diesem Grund vor den | |
Schnelltests. | |
Tatsächlich bieten die Schnelltests mit einer etwa 95-prozentigen | |
Verlässlichkeit keine so hohe Sicherheit wie die gängigen PCR-Tests, die im | |
Labor ausgewertet werden. Aber Lisa Federle meint: „95 Prozent sind besser | |
als nichts.“ Und die Schnelltests liefern anders als die PCR-Tests | |
innerhalb von wenigen Minuten ein Ergebnis, sind leicht verfügbar und nicht | |
auf Reagenzgläser und anderes knappes Labormaterial angewiesen. | |
## Die Bedeutung der Ehrenamtlichen | |
Ein anderer Grund, der mancherorts gegen die Tübinger Strategie spricht: | |
das Geld. Aus dem Kreis Ilm in Thüringen schreibt etwa eine Sprecherin, die | |
Testung der breiten Bevölkerung, ohne dass diese dafür zahlt, wäre | |
finanziell „durch den Landkreis nicht zu stemmen“. Jedenfalls, wenn man für | |
jeden der Schnelltests etwa 10 Euro veranschlage und allen Einwohner:innen | |
potenziell einen zur Verfügung stellen wolle. | |
Zwar zielt die Tübinger Strategie nicht darauf ab, wirklich jede Bürger:in | |
im Kreis zu testen. Dennoch: Die Umsetzung der Strategie ist teuer. Allein | |
für die Maßnahmen ohne die Schnelltests auf dem Marktplatz zahlt Tübingen | |
rund 500.000 Euro. Für die Schnelltests auf dem Marktplatz hat das DRK | |
selbst 100.000 Euro vorgestreckt – Geld, das jetzt durch Spenden der | |
Bürger:innen wieder eingenommen werden soll. Durchgeführt werden die Tests | |
dort von Ehrenamtlichen – ohne Lohn. | |
Die Arbeit der Freiwilligen ist nicht nur wichtig für die Finanzierbarkeit | |
der Strategie, sie liefern in Tübingen auch die nötige Arbeitskraft, um auf | |
dem Marktplatz zu testen. Anderswo herrscht dagegen bitterer | |
Personalmangel. Eine Sprecherin des Landkreisamtes Zwickau in Ostsachsen | |
sagt etwa, dort fehle es an jeglichem Personal und Räumlichkeiten für solch | |
ein Projekt. Man habe deshalb „keine Chance“, Schnelltests für die | |
Allgemeinbevölkerung umzusetzen. | |
Warum aber sind in Tübingen genug Freiwillige zur Stelle, während anderswo | |
Personalmangel herrscht? Anruf bei Edgar Grande, Professor und Experte für | |
die deutsche Zivilgesellschaft an der Freien Universität Berlin. Er sagt: | |
„In Ostdeutschland mit seiner vom Sozialismus geprägten | |
Gesellschaftsstruktur und Abwanderung nach der Wende gibt es heute deutlich | |
weniger Ehrenamtliche als in Westdeutschland.“ | |
## Ungenutztes Potenzial | |
Das zeigen auch die Mitgliederzahlen des DRK. So hatte das DRK in Baden | |
Württemberg laut Jahrbuch 2019 rund 36.000 aktive Mitglieder, der Verband | |
in Bayern über 120.000. In Sachsen dagegen sind es gerade einmal 11.000 | |
Ehrenamtliche, die sich aktiv beim DRK engagieren, in Thüringen und | |
Brandenburg jeweils rund 5.000. Auch in den nördlichen Bundesländern gibt | |
es weniger Freiwillige. In Nord und Ostdeutschland liegt der Anteil der | |
Menschen an der Gesamtbevölkerung, die das DRK unterstützen, zwischen 2 und | |
3 Prozent. In Bayern und Baden-Württemberg sind es dagegen deutlich über 5 | |
Prozent. | |
Dennoch sagt Politikwissenschaftler Grande: „Die Zivilgesellschaft ist | |
deutschlandweit ungenutztes Potenzial in dieser Krise.“ Auch wenn sie in | |
Ostdeutschland etwas schwächer sei, seien „die Voraussetzungen, sie in | |
irgendeiner Form einzusetzen, eigentlich überall gegeben“. Nur brauche es | |
dafür auch den Willen, Strukturen aufzubauen. Und wohl eine Person, die | |
einen Impuls setzt. | |
Womit man letztlich wieder bei Lisa Federle landet. Sie ist sich sicher, | |
dass ihre Strategie genauso gut in jeder anderen deutschen Stadt umgesetzt | |
werden könnte. Dafür brauche es vor allem „eine Person, die sich reinkniet�… | |
– und meint sich damit selbst. Federle hat gute Gründe für so viel | |
Selbstvertrauen. Als eine der Ersten habe sie sich schon im Februar, als | |
das Virus noch weit weg schien, mit verschiedenen Testmöglichkeiten | |
beschäftigt, erzählt sie. In zahlreichen Artikeln von Regionalzeitungen | |
lässt sich ihre zentrale Rolle dabei nachprüfen. „Da haben mich einige noch | |
komisch angeschaut.“ | |
Früh habe sie dann angefangen, mit den Ehrenamtlichen des DRK in Heimen zu | |
testen. Auch im Sommer habe man „stoisch“ damit weitergemacht. Im Herbst | |
sei sie es gewesen, die Schnelltests als Chance erkannt und dafür gesorgt | |
habe, dass diese in großer Zahl bestellt würden. Davon profitierten | |
Tübingen und der Landkreis nun. | |
## „Initiative“ und „Energie“ | |
Nicht nur sie selbst, auch der Sprecher des Landesverbandes Rotes Kreuz | |
Baden-Württemberg sieht Federle als wichtigen Grund dafür, dass der | |
Tübinger Weg gelingt: Er lobt ihre „Initiative“ und „Energie“. Und auch | |
Tübingens Bürgermeister Boris Palmer kommt nicht drumherum, Federle gute | |
Arbeit zu bescheinigen. | |
Dass Behörden und Amtsträger über die Stadt und den Kreis Tübingen hinaus | |
mittlerweile gemerkt haben, dass Federles Idee dabei helfen könnte, die | |
Coronapandemie einzudämmen, zeigt die Aktion „Stille Nacht, einsame Nacht? | |
Muss nicht sein!“ der Landesregierung Baden-Württemberg. Angekündigt wurde | |
diese Mitte Dezember, nun, vor Weihnachten, soll sie umgesetzt werden. Auf | |
Basis von Federles Konzept will das Land in vielen Städten kurzfristig | |
Testzentren aufbauen lassen, zu denen diejenigen kommen können, die vor dem | |
Besuch bei älteren Verwandten sichergehen wollen, nicht mit dem Coronavirus | |
infiziert zu sein. Das nötige Personal dafür soll unter anderem von | |
örtlichen Verbänden des DRK kommen. | |
Zwar ziehen nicht alle Regionen mit – im Neckar-Odenwald-Kreis etwa hat man | |
sich gegen die Aktion entschieden, da die Fallzahlen örtlich zu hoch und | |
die Schnelltests zu fehleranfällig seien. Doch in den meisten Städten | |
Baden-Württembergs scheinen die Behörden zu glauben, dass mit Lisa Federles | |
Idee tatsächlich dafür gesorgt werden kann, Weihnachten zumindest ein | |
bisschen sicherer zu machen. Am 23. Dezember soll die Aktion starten. | |
23 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[2] /Corona-Schnelltest-im-Check/!5731121 | |
## AUTOREN | |
Frederik Eikmanns | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Tübingen | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Boris Palmer | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Corona-Modellprojekt vorerst gestoppt: „Tübinger Modell“ passé | |
Testen und öffnen – so funktionierte das Corona-Modellprojekt in der Stadt | |
am Neckar. Wegen der Bundesnotbremse ist damit jetzt Schluss. | |
Sinkende Zugangshürden für Coronatests: Schnelltests für den Hausgebrauch | |
Spahn plant Coronatests für zuhause. Endlich! Auf diese Weise werden sie | |
erschwinglicher und erleichtern den Alltag in der Pandemie. | |
Coronakrise im sächsischen Zittau: Eine Stadt verstummt | |
Im Südosten Sachsens eskaliert die Coronalage. Zittaus Krematorium ist | |
überlastet. Behörden machen Überstunden, um Totenscheine auszustellen. | |
Private Coronatestzentren: Im Schutzanzug auf der Tanzfläche | |
Weihnachten zur Familie oder allein? Private Testzentren wollen | |
Entscheidungshilfen sein. Um Freifahrtsscheine geht es ihnen nicht. | |
Aktuelle Entwicklungen in der Coronakrise: Neuer Höchststand bei den Toten | |
962 Coronapatiente:innen starben am Dienstag. In NRW und Bayern gilt jetzt | |
eine Testpflicht für Einreisende. Das Virus ist derweil in der Antarktis | |
angekommen. | |
Biontech zu mutiertem Coronavirus: „Kein Grund zur Sorge“ | |
Biontech-Chef Uğur Şahin ist zuversichtlich. Er geht davon aus, dass der | |
entwickelte Impfstoff auch vor Mutationen des Coronavirus schützt. | |
Aktuelle Entwicklungen in der Coronakrise: Erstmals wieder Corona in Taiwan | |
Seit April hatte es in dem Staat keine neuen Infektionen mehr gegeben – bis | |
jetzt. Das RKI meldet in Deutschland 19.528 Neuinfektionen. Joe Biden wurde | |
geimpft. | |
Coronavirus in Frankreich: Hochburg der Impfgegner:innen | |
In Frankreich ist Impfablehnung besonders verbreitet, auch in der | |
Coronapandemie. Verständliche Argumente mischen sich mit kruden | |
Vorstellungen. |