# taz.de -- Auf Architekturtour in Brno: Einst eine brummende Industriestadt | |
> Berühmte Architekten hinterließen Spuren ihres Wirkens in Brno (Brünn). | |
> Daraus entwickelte sich ein ganz eigener „mährischer Modernismus“. | |
Bild: Vom Garten der Villa Tugendhat aus hat man einen fantastischen Blick auf … | |
Der Wahrheit am nächsten kommt man wohl, wenn man beides zusammennimmt: | |
Einerseits war die mährische Stadt, deren deutscher Name Brünn ist, | |
tatsächlich jahrhundertelang eine brummende Industriestadt. Dank Weberei | |
und Maschinenbau kamen einige Unternehmer zu großem Wohlstand, der sie in | |
die Lage versetzte, kostspielige und anspruchsvolle Privathäuser und | |
Wohnkomplexe zu errichten. Aus dem 150 Kilometer entfernt gelegenen Wien, | |
in das zur Zeit der habsburgischen Monarchie viele Künstler und Architekten | |
aus dem ganzen Reich zum Studieren gingen, kamen die ästhetischen und | |
baulichen Impulse, die allerdings hier oft eine landesspezifische | |
Ausprägung erfahren haben. | |
Nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich in Brno – nun zweitgrößte Stadt | |
in der aus dem habsburgischen K.-u.-K-Reich entlassene Tschechoslowakei – | |
eine eigene Form der zeitgenössischen Architektur. Die reflektierte die | |
Suche nach einer eigenen nationalen Identität, die gleichzeitig modern und | |
traditionsverbunden war. Während Prag schon mit neobarocken und | |
Jugendstil-Bauten vollgestellt war, konnten sich im jungen und kleinen Brno | |
moderne Architekten sogar noch im Stadtkern erproben. | |
Zu dieser Zeit war Brno eine mehrheitlich von Deutschen bewohnte Stadt, die | |
in den Innenstadtbezirken residierten und die gesellschaftliche Elite | |
darstellten, während die Tschechen oft als Arbeiter an den Stadtrand | |
abgedrängt waren. Gleichwohl scheinen viele der Bauherren den Wunsch nach | |
einer ortsspezifischen Architektur gehabt zu haben. Und die ist es auch, | |
wegen der die Stadt – neben einer historischen Altstadt, einer lebendigen | |
Kulturszene mit allein sechzehn Theatern und der deftigen tschechischen | |
Knödelküche – einen Besuch wert ist. | |
Diese Art des Bauens war zwar von Adolf Loos, [1][Le Corbusier] und dem | |
[2][Bauhaus] beeinflusst, entwickelte aus diesen Ansätzen aber einen ganz | |
eigenen „mährischen Modernismus“. Wer die Stadt heute besucht, kann auf den | |
Spuren dieser höchst bemerkenswerten Bauten locker eine Woche durch Brno | |
wandern und wird trotzdem nicht alles gesehen haben. Eine Stadt von dieser | |
Größe mit so einer Menge von modernistischen Bauten und Gebäudeensembles | |
gibt es wohl nur einmal auf der Welt. | |
In den letzten Jahren hat Brno diese Besonderheit zu pflegen begonnen. In | |
der Nachwendezeit wurden einige der wichtigsten und schönsten Bauten, die | |
den Sozialismus relativ unbeschadet überstanden haben, umgebaut oder sogar | |
abgerissen. Doch ab 2010 begann eine gründliche Untersuchung dieser | |
Gebäude. Nun gibt es eine Datenbank im Internet und einen gut gemachten, | |
englischsprachigen Architekturführer, um sich die Stadt zu erschließen. Die | |
Suche nach baulichen Highlights kann beginnen. | |
Das berühmteste funktionalistische Gebäude in Brno ist natürlich die Villa | |
Tugendhat im Vorort Černá Pole, die 1929 und 1930 nach Plänen des | |
[3][deutschen Architekten Ludwig Mies van der Rohe] gebaut wurde. Wenn man | |
das Haus heute von innen sehen will, muss man sich Monate im Voraus für | |
eine Führung anmelden. Für spontane Besucher ist nur der ebenfalls im | |
Bauhaus-Stil gestaltete Garten zugänglich. | |
Mies van der Rohe hatte zunächst wenig Interesse an dem Auftrag, änderte | |
sein Meinung aber nach einem Besuch das Baugeländes, das ihm von seinen | |
zukünftigen Bauherrn, dem Brünner Textilfabrikanten Fritz Tugendhat, | |
präsentiert wurde. Der hatte von seinen Schwiegereltern zusammen mit seiner | |
Ehefrau Greta ein Grundstück in Hanglage geschenkt bekommen, das einen | |
unverbaubaren Blick auf die Altstadt und die Festung Špilberk bot, die auf | |
einem Berg über Brno thront. | |
Wer das Haus von vorne sieht, glaubt zunächst, vor einem Bungalow zu | |
stehen. Erst während des Besuchs wird klar, dass Mies van der Rohe ein | |
dreietagiges Haus in den Berghang hinein gebaut hat, das auf der von der | |
Straße abgewandten Seite mit riesigen Panoramafenstern, einer imposanten | |
Veranda und einer großzügigen Freitreppe in den Garten das Beste aus dieser | |
Lage machte. Die Böden und das Dach des Hauses ruhen auf verchromten | |
Stahlstützen, die eine vollkommen freie Aufteilung des Grundrisses | |
ermöglichen. Diese neuartige Konstruktionsmethode war die Voraussetzung für | |
Mies van der Rohes Konzept des „fließenden Raums“ ohne tragende | |
Zwischenwände, bei dem einzelne Raumteile durch Vorhänge oder Schiebewände | |
nach Bedarf flexibel abgetrennt werden konnten. Zusammen mit Bildern des | |
Gebäudes verbreitete sich das Prinzip um die ganze Welt. Heute steht die | |
Villa Tugendhat deswegen auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes. | |
## Versenkbare Fenster und ein Aufzug für Speisen | |
Für die Ausstattung waren Bauherr und Architekt die kostspieligsten | |
Materialien gerade gut genug: In dem damals angeblich teuersten | |
Einfamilienhaus der Welt wurden südostasiatische Tropenhölzer, Onyxmarmor | |
aus Marokko und italienischer Travertin verbaut. Das Haus hatte eine | |
Klimaanlage, ein Privatkino, eine Dunkelkammer, versenkbare Fenster, einen | |
Speisenaufzug, der Essen aus der Küche auf alle Etagen transportierte, und | |
sogar einen eigenen Raum, in dem die Pelzmäntel im Sommer so gut belüftet | |
gelagert wurden, dass sie vor Mottenbefall sicher waren. Auch die gesamte | |
Ausstattung und die meisten Möbel wurden von Mies van der Rohe und einigen | |
gleichgesinnten Innenarchitekten speziell für das Haus entworfen. Ganz dem | |
funktionalistischen Geist entsprechend herrscht allerdings auch hier die | |
größtmögliche Reduktion: Die Betten sind schmal und schlicht; das | |
Badezimmer hatte zwar bereits ein Klo mit Wasserspülung, aber keinerlei | |
überflüssigen Schnickschnack. | |
Die Erbauer konnten ihr Traumhaus nur acht Jahre lang genießen. 1938 | |
mussten die Tugendhats vor den Nationalsozialisten in die USA flüchten, | |
weil sie Juden waren. Ihr Unternehmen wurde nach Ende des Zweiten | |
Weltkriegs nationalisiert und war in der ČSSR als volkseigener Betrieb | |
Mosilana bekannt. Erst in den späten 70er Jahren konnte Greta Tugendhat | |
wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren. Ihre Erinnerungen waren eine | |
wichtige Informationsquelle für die erste Renovierung des Hauses um 1980, | |
die Kriegsschäden beseitigte, aber auch Teile der Originalausstattung | |
zerstörte. Erst 2012 wurde eine zweite Renovierung beendet, bei der mit | |
Liebe zum Detail der ursprüngliche Zustand des Hauses so weit wie möglich | |
wieder hergestellt wurde. | |
Gerade weil die Villa Tugendhat den strengen Funktionalismus des Bauhauses | |
so kompromisslos durchzog, wurde der Bau nach seiner Vollendung von vielen | |
tschechischen Architekten als teutonischer Fremdkörper im jungen | |
Nationalstaat der Tschechoslowakei angesehen. Ein an lokale Sitten und | |
Gebräuche angepasstes Gegenmodell ist die Villa Stiassni (1927–1929), die | |
der Architekt Ernst Wiesner für die Familie des jüdischen | |
Textilunternehmers Alfred Stiassni entwarf. | |
Auch hier dominiert der Funktionalismus, in seiner monumentalen | |
Gesamtanlage erinnert das Gebäude allerdings eher an die Festung Špilberk. | |
Bei der Inneneinrichtung setzte sich die Industriellengattin Hermine | |
Stiassni durch und stellte den in einem riesigen Garten im hügeligen | |
Masaryk-Viertel befindlichen Bau voll mit „gemütlichen“, dunklen und | |
plüschigen Möbeln, bei deren Anblick Mies van der Rohe wohl den Dienst | |
quittiert hätte. | |
Weitere modernistische Bauten sind über das ganze Stadtgebiet verteilt; | |
einige der wichtigsten können auch besucht werden. Nicht weit von der Villa | |
Tugendhat kann man zum Beispiel einen káva trinken im originalgetreu | |
renovierten Café Era (1927–1929) von Josef Kranz und dabei dessen | |
Innenausstattung in Weiß, Blau und Rot bewundern, die an die Entwürfe des | |
holländischen De-Stijl-Begründers Gerrit Thomas Rietveld erinnert. | |
## Im Geist des Modernismus | |
Im Stadtpark findet sich mit dem Café Zeman von Bohuslav Fuchs eine weitere | |
funktionalistische Gemme, die allerdings beim Besuch einen dauerhaft | |
geschlossenen Eindruck machte. Ebenfalls ganz im Geist des Modernismus | |
wurde auch zum zehnjährigen Jubiläum der Republiksgründung 1928 das | |
Messegelände gestaltet. Als möglicherweise einzige Stadt der Welt behergt | |
Brno außerdem eine katholische, eine evangelische und eine orthodoxe Kirche | |
sowie eine Synagoge im funktionalistischen Stil. | |
Aber vor allem sind es Hunderte von modernistischen Einfamilienhäusern und | |
Wohnblocks, die quer durch die ganze Stadt verteilt sind und die man am | |
besten per Fahrrad abklappert. Wenn man so unterwegs ist, kann man auch | |
einen Blick auf die Gegend werfen, in der Brnos Wohlstand erwirtschaftet | |
wurde. Im Viertel Cejl, ehemals auf Deutsch die „Zeile“, finden sich | |
zahlreiche ehemalige Fabriken, in denen einst Textilien oder Maschinen | |
hergestellt wurden. Für diese Exkursion hält das Fremdenverkehrsbüro von | |
Brno einen nützlichen Plan zur Routenplanung zu den technischen Denkmälern | |
bereit. | |
Einer der wichtigsten Vertreter eines schnörkellosen, modernen Baustils ist | |
übrigens in Brno geboren: Adolf Loos, der mit seinem Buch „Ornament und | |
Verbrechen“ ein lautstarker Stichwortgeber für die Architekten in ganz | |
Europa wurde, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Baukunst auf ihre | |
Grundformen reduzierten wollten – auch für Mies van der Rohe. Das immer | |
hilfreiche Tourismusbüro von Brno verteilt sogar eine kleine Broschüre, die | |
den Besucher zu Orten führten, die im Leben des Architekten eine Rolle | |
gespielt haben. So erfährt man unter anderem, wo Loos zur Schule gegangen | |
ist und auf welchem Grundstück er fast etwas gebaut hätte. Aber letztlich | |
bleibt die Einsicht, dass Loos in seiner Geburtsstadt praktisch keine | |
architektonischen Spuren hinterlassen hat. Wer Bauten von ihm sehen will, | |
muss nach Prag oder nach Wien fahren. Für alle anderen Besucher bietet Brno | |
allerdings genug moderne Architektur für einen ausgiebigen und | |
inspirierenden Aufenthalt. | |
10 Jan 2021 | |
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