# taz.de -- Termine zu gegen-institutioneller Praxis: Trauer darf nicht selekti… | |
> Aktivistische Praktiken und Ethiken sind wichtiger denn je. Wir stellen | |
> drei Termine vor, die sich mit lebensfreundlicheren Strukturen befassen. | |
Bild: Camp für Geflüchtete aus Syrien nahe Athen | |
Vor 100 Jahren wurde Paul Celan geboren. 1942 deportierten die Nazis seine | |
jüdischen Eltern in ein Lager. Sein Vater starb an einer Typhus-Infektion, | |
Seine Mutter wurde erschossen. Celan blieb zurück, überlebte als | |
Zwangsarbeiter, als displaced person, als Dichter mit der Sprache der | |
Mörder. Er überlebte und überlebte doch nicht. 1970 nahm sich der schwerst | |
Traumatisierte in Paris das Leben. | |
Ingeborg Bachmann, die Celan 1948 kennen gelernt hatte, versuchte sichim | |
Gedicht „Exil“ in Celan hineinzuversetzen: „Ein Toter bin ich derwandelt/ | |
gemeldet nirgends mehr/ unbekannt im Reich des Präfekten/überzählig in den | |
goldenen Städten/ und im grünenden Land/ abgetan langeschon/ und mit nichts | |
bedacht (…)“. | |
Selbst wer körperlich noch lebendig ist, kann schon tot sein, kann als | |
überzählig betrachtet werden. Überzählig heißt in der Nazi-Sprache | |
„unwert“. Das Leben von Celans Eltern und von Millionen anderen war den | |
Nazis überzählig: nicht wert, betrauert zu werden. | |
„Betrauerbar sein heißt angesprochen sein auf eine Weise, die mich wissen | |
lässt, dass mein Leben zählt“, schreibt [1][die Theoretikerin Judith | |
Butler] in ihrem neuen Buch „Die Macht der Gewaltlosigkeit“. und weiter: | |
„dass mein Leben zählt, dass sein Verlust nicht bedeutungslos ist, dass | |
mein Körper als einer behandelt wird, der zu leben und zu gedeihen imstande | |
sein sollte, wofür auch förderliche Bedingungen gegeben sein sollten.“ | |
Wen aber betrauern wir jetzt in der Pandemie? Betrauern wir die Toten in | |
Deutschland mehr? Und unter diesen? Bringen wir erst Trauer undEngagement | |
auf, wenn die eigene Mutter darunter fällt? Wie steht es umjene, die | |
weiterhin Ertrinken im Mittelmeer und um jene, die im Lager keinesfalls „zu | |
leben und zu gedeihen imstande sind“? | |
## Gegen-institutionelle Praxis stärken | |
Weihnachtsgeschenke, so schrieb der Ethnologe Claude Lévi-Strauss 1952 in | |
einem Essay, stellen im Grunde versöhnliche Gaben an die ansonsten | |
vernachlässigten Toten dar. Denn, wer könne „in einer Gesellschaft von | |
Lebenden die Toten verkörpern, wenn nicht all diejenigen, die in | |
irgendeiner Weise nur unvollständig in die Gruppe integriert sind (…) | |
“Fremde, Sklaven und Kinder also seien – stellvertretend für die Toten –… | |
den hauptsächlichen Nutznießern des Festes“ geworden. Jene also, deren | |
Leben ansonsten weniger betrauerbar waren. Weihnachten erweistsich damit | |
als Abschluss eines rituellen Ringens mit den Toten, das mit Halloween und | |
Allerheiligen beginnt und sich den gesamten Herbst durchzieht: „der Triumph | |
des Lebens, wenn an Weihnachten die mit Geschenken überschütteten Toten die | |
Lebenden verlassen, um ihnen bis zum nächsten Herbst Ruhe zu gönnen.“ | |
Doch die vernachlässigten Kinder an den EU-Außengrenzen, „abgetan | |
langeschon/ und mit nichts bedacht“, sind keine Geister, die sich rituell | |
beruhigen ließen. Die von der Pandemie besonders Gefährdeten ebenso wenig. | |
Angesichts der Selektion, die Kinder und Alte in den Konzentrationslagern | |
zuerst in die Gaskammern schickte, wurde festgehalten: „Die Würde des | |
Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung | |
aller staatlichen Gewalt.“ | |
Wie Weihnachten wird dieser Satz zum leeren, magischen Ritual, wo die | |
Betrauerbarkeit weiterhin so ungleich verteilt ist. Wo Leben weiterhin | |
Verhandlungsmasse ist. „Die Voraussetzung gleicher Betrauerbarkeit wäre | |
nicht bloß eine Überzeugung oder eine Haltung, mit der uns ein anderer | |
Mensch bejaht, sondern ein Grundsatz, nach dem die soziale Organisation von | |
Gesundheitsversorgung, Nahrungsverteilung, Wohnung, Arbeit, Liebesleben und | |
bürgerlichem Leben geregelt wird“, schreibt Butler. | |
Nicht Verbote könnten institutionelle Missstände überwinden, sondern nur | |
ein gegen-institutionelles Ethos und eine gegen-institutionelle Praxis. | |
Drei Termine geben diese Woche Gelegenheit zu solcher Praxis. | |
## Wie funktioniert das autarke kurdische Gesundsheitssystem? | |
Eine Online-Veranstaltung will Polizeigewalt beleuchten. Laila Abdul-Rahman | |
vom Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt“ an der Ruhr-Uni Bochum und | |
Mitglieder*innen der Grün-Weißen Hilfe und der Kampagne für Opfer | |
rassistischer Polizeigewalt (KOP-Bremen) beleuchten rassistische | |
Polizeigewalt und fragen: | |
Beginnt Polizeigewalt schon bei der sogenannten „Anlasslosen Kontrolle“ | |
oder dem rechtswidrigen Kessel? Warum trifft sie manche Menschen häufiger | |
als andere? Wie geht [2][die Polizei mit Kritik um]? Was unterscheidet die | |
Gewalterfahrungen von Personen mit Migrationshintergrund sowie People of | |
Color von Personen ohne Migrationshintergrund beziehungsweise weißen | |
Personen? (10. 12., 19.30 Uhr, [3][www.kukoon.de]) | |
Elisa, eine Ärztin und Aktivistin, war regelmäßig in Rojava, unterstützte | |
und lernte. Khaled, Krankenpfleger, unterrichtet an einer Pflegeschule in | |
Berlin und kommt selbst aus Rojava. Außerdem ist er in der Vertretung der | |
Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Berlin. Wie funktioniert das | |
kurdische selbstorganisierte Gesundheitssystem im Vergleich zum | |
profitorientierten Gesundheitssystem hier? Was ist eigentlich die | |
Frauenrevolution und was hat sie mit Medizin zu tun? (11. 12., 19 Uhr, | |
Anmeldung über [email protected]) | |
„Für die Vergesellschaftung des Gesundheitswesens! Gute Arbeitsbedingungen | |
und faire Löhne für alle! Frauen- und Geburtshäuser sowie kostenlose | |
Unterstützungsnetzwerke ausbauen! Bleiberecht für alle illegalisierten | |
Migrant*innen und eine menschenwürdige Unterbringung!“ Dies sind die | |
Forderungen einer Kiezkundgebung, zu der die Initiative „Hände weg vom | |
Wedding“ aufruft – mit Maske und Abstand (12. 12, 12 Uhr, U-Bhf | |
Pankstraße). | |
9 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /30-Jahre-Judith-Butlers-Gender-Trouble/!5664165 | |
[2] /Rechtsextreme-Chats-in-der-Polizei/!5731314 | |
[3] http://www.kukoon.de | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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