# taz.de -- Corona-Hotspot Brasilien: Ideal für Impfstoffversuche | |
> Aufgrund der hohen Infektionsrate in Brasiliens Bevölkerung eignet sich | |
> das Land besonders gut für klinische Studien. Das hat Folgen. | |
Bild: Impfstofftest in São Paulo: Die Psychologin Darianne Lima erhält eine S… | |
Es ist ein nieseliger, warmer Novembermorgen. Auf dem internationalen | |
Flughafen von São Paulo landet eine Maschine der Turkish Cargo. Container | |
werden entladen. Sie tragen die Aufschrift: „Die Impfung des Butantan. Um | |
Leben zu retten.“ Es handelt sich um die erste Charge der Grundsubstanz des | |
Impfstoffs CoronaVac. Dieser Impfstoff wurde von der chinesischen Firma | |
Sinovac entwickelt. Das brasilianische Forschungsinstitut Butantan erprobt | |
CoronaVac an 9.000 Freiwilligen in einer klinischen Phase-III-Studie. | |
Weitere Phase-III-Studien mit diesem Impfstoff laufen in China, der Türkei | |
und in Indonesien. Inzwischen, heißt es, sind 170 Proband:innen der Studie | |
infiziert. Der Schutzfaktor errechnet sich aus dem Verhältnis der | |
Infizierten, die den Impfstoff bekamen, zu den Infizierten, die ein Placebo | |
bekamen (also die Kontrollgruppe). Für die Veröffentlichung über die | |
Wirksamkeit hätten 152 Infizierte ausgereicht, sagt das Institut Butantan. | |
Am 23. Dezember will es die Studienergebnisse veröffentlichen. Dann erfolgt | |
bei der brasilianischen Arzneimittelzulassungsbehörde Anvisa der Antrag für | |
eine reguläre Zulassung des Impfstoffs. Es soll keine Notfallzulassung | |
werden, die in Brasilien nur für Risikogruppen Geltung hätte. | |
„Vier Phase-III-Studien mit verschiedenen Corona-Impfstoffen werden seit | |
Mai in Brasilien durchgeführt“, sagt Lily Weckx, „eine weitere seit | |
Oktober.“ Die Infektiologin arbeitet an der Landesuni Unifesp von São | |
Paulo. Aber warum in Brasilien? „Da wir hier unglücklicherweise eine | |
exponentiell wachsende Zahl an Corona-Infizierten haben, ist unser Land für | |
Studien über die Effizienz von Impfungen ideal.“ Bislang starben im Staat | |
São Paulo mehr als 44.000 Menschen an oder mit einer Corona-Infektion. In | |
ganz Brasilien sind es mehr als 180.000. Brasilien gehört nach den USA zu | |
den am stärksten vom Coronavirus betroffenen Ländern der Welt. | |
Kindergeschrei an einem Terrarium im Park des Butantan, das als | |
„Schlangeninstitut“ bekannt ist. Viele, die über die Mauer schauen, gruseln | |
sich vor den Giftschlangen im Terrarium. Das Butantan ist die älteste | |
epidemiologische Einrichtung Brasiliens und entstand, als Anfang des | |
letzten Jahrhunderts die Beulenpest den Hafen von Santos erreichte. Auch | |
Brasilien wollte sich an der Suche nach einem Impfstoff gegen die Pest | |
beteiligen. Seitdem produziert das Institut Medikamente, Impfstoffe und | |
Antiseren gegen Schlangenbisse. Das Butantan untersteht dem | |
Gesundheitssekretariat des Bundesstaats São Paulo und will bis Januar 46 | |
Millionen Impfdosen von CoronaVac abfüllen. | |
Am 25. Januar soll die Impfkampagne im bevölkerungsreichsten Bundesstaat | |
Brasiliens beginnen – vorbehaltlich der Zulassung. Nur das Butantan verfügt | |
in Brasilien über Labore der Sicherheitsstufe 3, die für diese | |
Impfstoffherstellung notwendig sind. Sie sollen für die eigene Herstellung | |
von CoronaVac im zweiten Halbjahr 2021 ausgebaut werden. | |
„Der [1][Impfstoff CoronaVac aus China] ist ein Totimpfstoff“, sagt Jonas | |
Schmidt-Chanasit. Er ist Virologe und Leiter des Referenzzentrums der WHO | |
für von Mücken übertragene Infektionen am Bernhard-Nocht-Institut für | |
Tropenmedizin in Hamburg. Totimpfstoffe tragen einen abgetöteten Teil des | |
Mikroorganismus in sich, gegen das der menschliche Körper immun gemacht | |
werden soll. „Das ist eine ganz klassische Methode der | |
Impfstoffherstellung. Die kenne wir von anderen Impfstoffen, zum Beispiel | |
vom japanischen Enzephalitis-Impfstoff, der in Mäusegehirnen gezüchtet und | |
dann inaktiviert wird.“ Der Vorteil dieses konventionellen Impfstoffs: Er | |
kann im Kühlschrank aufbewahrt werden. Der Preis einer Impfdosis CoronaVac | |
soll wenige Dollar betragen. | |
## Auch Biontech lässt in Brasilien testen | |
Im Vergleich dazu schneidet der Impfstoff von [2][Biontech/Pfizer], der | |
bereits in Großbritannien, Kanada und den USA geimpft wird, schlechter ab. | |
Er benötigt eine Kühlung von –70 Grad und soll 15 bis 18 Dollar kosten. | |
Problematisch für ein tropisches relativ armes Land. Auch der | |
Biontech-Impfstoff wurde in Brasilien getestet und dürfte daher im Lande | |
zugelassen werden. Allerdings wurde noch kein Antrag auf Zulassung | |
gestellt. Pfizer bedauert, im ersten Semester 2021 an Brasilien höchstens 1 | |
Million Dosen dieses Impfstoffs liefern zu können. | |
[3][Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro] ist wenig überzeugt vom Impfstoff | |
CoronaVac. Denn dieser, sagt er, komme aus China. Dabei haben die | |
Wissenschaftler:innen aus China, wie es so üblich ist, ihre Phase-I- und | |
Phase-II-Studienergebnisse zu CoronaVac in einer renommierten | |
Wissenschaftszeitschrift veröffentlicht (The Lancet). Vermutlich äußert | |
Bolsonaro sich negativ, weil sein politischer Konkurrent João Doria, | |
Gouverneur von São Paulo, diese Impfung propagiert. Ob die | |
Arzneimittelbehörde Anvisa, die vor zwei Wochen gemeinsam mit dem Butantan | |
die Sinovac-Impfstofffabrik in China begutachtete, unparteiisch ist, wird | |
sich zeigen. Präsident Bolsonaro besetzte kürzlich zwei der fünf | |
Direktorposten der Anvisa mit Militärs. | |
Rio de Janeiro ist das zweite Epizentrum der Coronapandemie. Das | |
epidemiologische Institut Fiocruz in Rio de Janeiro will bald den | |
Corona-Impfstoff AZD1222 der Firma [4][AstraZeneca] herstellen. AZD1222 ist | |
ein an der britischen Universität Oxford entwickelter sogenannter | |
Adenovirus-basierter Impfstoff. Zurzeit leitet Lily Weckx die Studie der | |
klinischen Phase III zur Wirksamkeit dieses Impfstoffs, an der in Brasilien | |
8.000 Freiwillige teilnehmen. Bei diesem Impfstoff sitzt die Wirksubstanz | |
auf einem nicht replizierbaren Schimpansen-Adenovirus. Dieses Virus | |
fungiert nur als Vektor und stellt keine Gefahr dar, versichert Jonas | |
Schmidt-Chanasit. „Da gibt es schon Erfahrungen, dass man Adenoviren als | |
sogenanntes Rückgrat benutzen kann.“ Ein bekannter Vektor-Impfstoff ist der | |
Ebola-Impfstoff Ervebo, der seit einem Jahr in Europa zugelassen ist. | |
Genauso wie das Butantan in São Paulo besitzt die Fiocruz in Rio de Janeiro | |
mit Biomanguinhos eine riesige Impfstofffabrik. Beide Institute stellen | |
seit Jahrzehnten Millionen Impfstoffdosen für die gegenwärtig 210 Millionen | |
Einwohner:innen Brasiliens her. | |
Spätestens seit den 90er Jahren verfügt Brasilien über eine gute nationale | |
Versorgung mit Arzneimitteln und Impfstoffen. Damals kämpfte das Land | |
erfolgreich um das Recht, selbst billige Generika (Nachahmerpräparate) zur | |
Behandlung von HIV-positiven Menschen herzustellen. | |
Direktor der Impfstofffabrik Biomanguinhos in Rio de Janeiro ist Maurício | |
Zuma. Schon im März, erzählt er, schloss sein Institut mit dem | |
Pharmakonzern AstraZeneca einen Vorvertrag ab. Wenn die Ergebnisse der | |
Phase-III-Studie positiv sind und die Anvisa den Impfstoff zulässt, beginnt | |
sofort die Produktion. „Obwohl diese Technologie relativ neu ist“, sagt | |
Maurício Zuma, „produzieren wir eigene Impfstoffe in einem ähnlichen | |
Prozess. Dabei werden Zellen in Bioreaktoren kultiviert und Proteine per | |
Chromatografie gereinigt. Dann wird die aktive pharmazeutische Substanz in | |
Suspension gegeben, in Glasfläschchen gefüllt und verpackt. Diese | |
Herstellungsschritte sind hier Routine.“ | |
„Zu Beginn unserer Kooperation mit AstraZeneca“, sagt Maurício Zuma, | |
„erhalten wir den pharmazeutisch aktiven Stoff gegen Covid-19 tiefgefroren. | |
Nach der Verdünnung und Verpackung liefern wir die Impfdosen an das | |
Gesundheitsministerium aus. Auf diese Art wollen wir bis Mitte 2021 die | |
ersten 100 Millionen Impfdosen herstellen.“ Ab dem zweiten Halbjahr 2021 | |
übernimmt Biomanguinhos die gesamte Produktion in Eigenregie. Die dafür | |
nötigen Umbauarbeiten sind bereits angelaufen. Genauso wie das Butantan | |
will die Fiocruz eine reguläre Zulassung des Impfstoffs von AstraZeneca | |
beantragen. | |
Was die Impfkampagnen betrifft, die auf Brasilien zukommen: auch da ist das | |
Land gut vorbereitet. Das zeigte die Gelbfieber-Epidemie vor zwei Jahren. | |
30 bis 40 Millionen Menschen ließen sich impfen. Oft stritten sich die | |
Leute sogar um einen Platz in den Warteschlangen vor den staatlichen | |
Gesundheitsposten. | |
17 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Oeffentliche-Gelder-in-Corona-Pandemie/!5716965 | |
[2] /Der-Corona-Impfstoff-von-Biontech/!5733717 | |
[3] /Bolsonaro-und-die-Pandemie/!5702868 | |
[4] /Auch-Astrazeneca-entwickelt-Impfstoff/!5730404 | |
## AUTOREN | |
Gudrun Fischer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Covid-19 | |
Brasilien | |
Impfstoff | |
São Paulo | |
Brasilien | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Coronapandemie in Brasilien: Der Nächste, bitte | |
Bei über 1.800 Coronatoten pro Tag bekommt Brasilien jetzt den vierten | |
Gesundheitsminister seit Beginn der Pandemie. Ändern dürfte sich wenig. | |
Covid-19 in Brasilien: Wenn der Sauerstoff ausgeht | |
In der Regenwaldmetropole Manaus explodieren die Infektionszahlen. In den | |
Krankenhäusern sind viele auf private Sauerstoffflaschen angewiesen. | |
Impfgegner und die Coronapandemie: Gegen den Stich | |
Europaweit setzen Regierungen auf die neuen Impfstoffe, um Corona zu | |
stoppen. Impfgegner und Rechtsextreme mobilisieren dagegen. | |
Die Wahrheit: Hurra! Die Impfstoffe sind da! | |
Jetzt im großen Wahrheit-Test: die brisanten Varianten sämtlicher bislang | |
entwickelter Seren gegen den überaus zähen Corona-Erreger. | |
Kampf gegen Corona: Das Impfroulette | |
Wann kommt ein Impfstoff gegen Covid-19? Wahrscheinlich erst Anfang 2021. | |
Die Produktion von Impfdosen läuft indes auf Hochtouren. | |
Eigentumsrechte auf Coronatechnologien: Aussetzung der Patente gefordert | |
Im Kampf gegen Covid-19 schalten Indien und Brasilien die | |
Welthandelsorganisation ein. Die Entscheidung kann sich jedoch bis Juni | |
2021 hinziehen. |