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# taz.de -- Stealthing-Urteil des Amtsgerichts Kiel: Angeklagter freigesprochen
> Nach einem Berliner Urteil schien klar: Es ist strafbar, wenn ein Mann
> anders als abgemacht das Kondom weglässt. Ein Kieler Gericht sieht das
> anders.
Bild: Kleines Utensil mit großer Wirkung
Bremen taz | Ist es strafbar, wenn ein Mann beim Sex entgegen voriger
Absprache das Kondom auszieht oder weglässt? [1][Ja, sagte im Sommer das
Kammergericht Berlin.] Nein, sagte nun das Kieler Amtsgericht und sprach
letzte Woche einen Mann frei, dem [2][das sogenannte Stealthing]
vorgeworfen wurde.
Dass es zu einem ungeschützten Geschlechtsverkehr entgegen der Abmachung
gekommen war, gab der Angeklagte zwar zu. Aber der zuständige Richter
eröffnete gar nicht erst die Beweisaufnahme, weil er die Handlung an sich
für nicht strafbar hält. Daher wurde die betroffene Frau, die als
Nebenklägerin auftrat, nicht als Zeugin vernommen. Das sagen die Anwältin
des Opfers und der zuständige Staatsanwalt. Beide haben inzwischen Revision
eingelegt.
Der Übergriff geschah bereits im März 2018. Laut Anklage trafen sich
Angeklagter und Nebenklägerin ab und an für Sex, so auch am besagten Abend.
Sie hatten dann zunächst Geschlechtsverkehr mit Kondom, sagt die Sprecherin
des Amtsgerichts Kiel, Myriam Wolf. Danach sei man zusammen geblieben, und
„im dynamischen Verlauf hat man sich wieder angenähert“. Beim zweiten Sex
habe der Angeklagte jedoch kein Kondom mehr genutzt; die Frau habe dies
aber erst hinterher bemerkt. „Das hat er auch alles vor Gericht zugegeben“,
sagt Wolf.
Sex ja, aber nur mit Kondom. Das sei schon immer die Absprache zwischen den
beiden gewesen, sagt die Kieler Rechtsanwältin Kerstin Bartsch. Da der
Angeklagte beim ersten Sex Probleme mit seiner Erektion hatte, so habe es
die Mandantin gesagt, habe er gefragt, ob er das Kondom ausnahmsweise
abnehmen könnte. „Nein, auf keinen Fall“, habe die Frau geantwortet. Diese
Unterhaltung bestritt der Angeklagte laut Bartsch am Dienstag vor Gericht.
Er habe aber bestätigt, von der generellen Vereinbarung gewusst zu haben.
Dass beim zweiten Sex das Kondom fehlte, habe ihre Mandantin nicht bemerkt.
Denn: Alles soll sich unter einer großen Decke abgespielt haben. „Ich habe
das vorher abgezogen“, soll er nach Bartsch’ Angaben anschließend zu ihr
gesagt haben. Einen Samenerguss habe er nicht gehabt, versicherte er ihr.
Das glaubte das Opfer zwar, sagt Bartsch, aber das sei egal: „Ungeschützt
ist ungeschützt.“ Ihre Mandantin sei wütend geworden und gegangen.
Das Abziehen des Kondoms, die Decke – das alles habe der Mann vor Gericht
ebenso geschildert, sagt Bartsch. Trotzdem sei er fest davon ausgegangen,
dass sie gespürt habe, dass er kein Kondom mehr trug, sagt die Anwältin –
weil sie so „sexuell erfahren“ gewesen sei und sein Penis vorher ihr Bein
berührt haben soll. Und nach der erneuten Erektion sei er „wie
fremdgesteuert“ gewesen, was er im Nachhinein sehr bedauere. So sehr, dass
er inzwischen psychologische Hilfe in Anspruch nehme. „Er hat sich als
Opfer dargestellt.“
Der Mann wurde nach [3][Paragraf 177 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs]
angeklagt, erklärt Gerichtssprecherin Wolf. Darin heißt es: „Wer gegen den
erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser
Person vornimmt (...), wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu
fünf Jahren bestraft.“ Genau so steht das da aber erst seit vier Jahren.
Denn [4][2016 beschloss der Bundestag das neue Sexualstrafrecht], nach dem
ein [5][Nein, Weinen oder Kopfschütteln bereits ausreicht], um etwaig
folgende sexuelle Handlungen strafbar zu machen.
Dass unter den neuen Paragrafen auch Sex ohne Kondom fällt, wenn eine
Partei im Vorhinein deutlich gemacht hat, dass sie das nicht möchte,
entschied erstmals das Amtsgericht Berlin Tiergarten im Jahr 2018. Es
verurteilte einen 37-jährigen Polizisten wegen eines sexuellen Übergriffs
zu acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer
Schadensersatzzahlung von 3.000 Euro. Er hatte während des
Geschlechtsverkehrs das Kondom entfernt; die Frau hatte dies erst nach der
Ejakulation bemerkt. Dabei hatte sie mehrfach gesagt, dass ein Kondom
Bedingung ist.
In der [6][Begründung des Kammergerichts Berlin], das schließlich im Sommer
2020 in dritter Instanz das Urteil bestätigte, heißt es: „Das sog.
Stealthing erfüllt dann den Tatbestand des sexuellen Übergriffs, wenn der
Täter das Opfer nicht nur gegen dessen Willen in ungeschützter Form
penetriert, sondern (…) darüber hinaus in den Körper des bzw. der
Geschädigten ejakuliert.“ Dies sei noch keine Entscheidung darüber, wie
Stealthing zu beurteilen wäre, wenn es zu keiner Ejakulation kommt, steht
in einer Mitteilung des Gerichts.
Dass es im Kieler Fall keinen Samenerguss gegeben haben soll, macht für
[7][Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht] an der Uni Leipzig, keinen
Unterschied. Zwar verstärke das den Übergriff noch einmal, „aber schon das
Fehlen des Kondoms und der unmittelbare Kontakt der Schleimhäute hat eine
andere Qualität“. Und angesichts der vorigen Absprachen und der Bettdecke,
unter der sich alles abgespielt haben soll, sei es laut Hoven auch
irrelevant, ob das Kondom während des Verkehrs abgestreift, oder von
vornherein weggelassen wurde. Neben der Sorge vor Krankheiten oder
Schwangerschaft gehe es dabei schlichtweg darum, welcher Handlung eine
Person zugestimmt hat – und welcher widersprochen wurde.
Der Kieler Richter sah das jedoch anders, wie Wolf erklärt. Er vertrete die
Rechtsauffassung, dass es laut des Paragraphen 117 unter Strafe steht, ob
ein Verkehr passiert – und nicht, wie. Das hieße nicht, dass er das
Verhalten des Angeklagten nicht schlimm findet. Im Gegenteil: Dies sei ein
schwerer Vertrauensbruch, so Wolf. Doch auch, wenn es rechtspolitisch
wünschenswert wäre, dass so ein Vorfall vom Gesetz erfasst wird – nach
Meinung des Richters ist dies nicht so.
Bartschs Befangenheitsantrag gegen den Richter, weil er die Zeugin am
Dienstag nicht mal anhören wollte, wurde abgelehnt. Der Richter hatte schon
2019 die Anklage zunächst gar nicht zugelassen. Nur dank Bartschs
Beschwerde beim Landgericht Kiel sei es schließlich zum Prozess gekommen.
In der entsprechenden Begründung vom Landgericht heißt es, dass das Gericht
die Auffassung des Amtsgerichts nicht teile, dass eine Kondombenutzung nur
eine „unwesentliche Modalität des Geschlechtsverkehrs“ darstellt, sagt
Bartsch.
## Kieler Staatsanwalt hält Stealthing für strafbar
Professorin Hoven hat zwar aufgrund der unklaren Rechtslage Verständnis für
die Begründung des Richters. „Ich halte sie trotzdem für falsch.“ Es sei
nicht richtig zu sagen, auf das Wie komme es nicht an. Das Gesetz bestrafe,
wenn eine sexuelle Handlung gegen den Willen des Opfers vorgenommen werde.
Und der Geschlechtsverkehr ohne Kondom stelle eine andere, weitergehende
sexuelle Handlung dar als der Geschlechtsverkehr mit Kondom.
Genauso sieht es auch der Kieler Oberstaatsanwalt Achim Hackethal. Er hat,
ebenso wie Bartsch, Revision gegen den Freispruch eingelegt. Denn er hält
Stealthing vor dem Hintergrund der Gesetzesreform 2016 für strafbar. Bis
das Oberlandesgericht Schleswig, wo der Fall jetzt landet, entscheidet,
werden seiner Einschätzung nach mehrere Monate vergehen.
Für eine juristische Klärung bräuchte es ein Urteil vor dem
Bundesgerichtshof (BGH) oder dem Bundesverfassungsgericht, und damit einen
Präzedenzfall. Der Kieler Fall würde aber nur vor dem BGH landen, wenn das
Oberlandesgericht Schleswig vom Kammerbericht Berlin abweichen will – dann
müsste das Urteil dem BGH vorgelegt werden.
## Urteil halte „patriarchale Strukturen“ aufrecht, sagt Anwältin
Vor dem Bundesverfassungsgericht könnte so ein Sachverhalt nur geklärt
werden, wenn ein verurteilter Täter sich bis dorthin klagt. Also zum
Beispiel, wenn der in Kiel Freigesprochene doch noch verurteilt werden
sollte und sich dann dagegen wehrt, weil er einen Eingriff in seine
Grundrechte vermutet.
Den Jurist*innen Bartsch, Hoven und Hackethal ist kein dritter Fall solcher
Art bekannt, der je vor einem deutschen Gericht gelandet ist. Aber von
eingestellten Verfahren, weil Staatsanwaltschaften anders als die Kieler
eine solche Tat für nicht strafbar halten, bekommt die Öffentlichkeit nun
mal auch nicht mit.
Für Bartsch hält das Urteil „patriarchale Strukturen“ aufrecht. Das
sexuelle Bedürfnis des Mannes könne nicht über das Schutzbedürfnis der Frau
gestellt werden. Doch die Gerichte hätten Schwierigkeiten, Frauen zu
glauben, sagt sie. „Ich kassiere viele Freisprüche bei Klagen in Bezug auf
Paragraph 177. Da muss gesellschaftspolitisch etwas passieren.“ Das
aktuelle Urteil sei zudem fatal, weil in Berlin nun etwas strafbar ist, was
in Schleswig-Holstein okay ist. „Wir brauchen endlich Rechtsklarheit.“
23 Nov 2020
## LINKS
[1] https://www.sueddeutsche.de/panorama/stealthing-urteil-sexueller-uebergriff…
[2] https://www.zeit.de/campus/2018-01/stealthing-sexualstraftat-rechtslage-opf…
[3] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__177.html
[4] /Kommentar-Reform-des-Sexualstrafrechts/!5315706
[5] /Juristin-ueber-neues-Sexualstrafrecht/!5315782
[6] https://www.berlin.de/gerichte/presse/pressemitteilungen-der-ordentlichen-g…
[7] https://einspruch.faz.net/einspruch-magazin/2019-02-13/irrungen-und-wirrung…
## AUTOREN
Alina Götz
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