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# taz.de -- Jahrestag des Bergen-Belsen-Prozesses: Ein rechtsstaatliches Lehrst…
> Am 17. November vor 75 Jahren endete der erste Bergen-Belsen-Prozess. Mit
> dem Verfahren wollten die Briten auch zeigen, wie Rechtsstaat geht.
Bild: Verteidiger auch für die Faschisten: der erste Bergen-Belsen-Prozess im …
Göttingen taz | Es war der erste Kriegsverbrecher-Prozess gegen Nazis. Vor
einem britischen Militärgericht standen in Lüneburg Kommandanten und
Aufseherinnen und Aufseher des KZ Bergen-Belsen. Insgesamt 45 Männer und
Frauen mussten sich für kaum fassbare Verbrechen und den Tod Zehntausender
Häftlinge verantworten. Bei der Urteilssprechung am 17. November 1945 gab
es neben Todes- und Haftstrafen auch Freisprüche. Die Grünen in
Niedersachsen fordern nun in einem Entschließungsantrag, dass das Land die
Erinnerung an dieses Verfahren dauerhaft wachhält.
„In Bergen-Belsen gibt es keinen Kamin, das heißt, das Elend wird nicht
verbrannt, so wie es in Auschwitz war. Hier haben die Leute gehungert, hier
war Typhus, hier war Schmutz, Läuse, keine Hygiene, keine Ambulanz, keine
Medikamente. 14 Tage blieben wir ohne Brot. Verpflegung war Rüben mit
Wasser, ohne Salz.“ So beschreibt es die damals 19-jährige Anita Lasker,
später Lasker-Wallfisch, in einem BBC-Interview am 16. April 1945, nur
einen Tag nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen durch
britische Truppen.
Lasker war mit vielen weiteren Häftlingen nach der Auflösung des
Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau nach Bergen-Belsen verschleppt
worden. Auch Anne Frank und ihre Schwester Margot gehörten zu ihnen. Sie
starben vermutlich schon im Februar 1945 an Fleck- und Hungertyphus.
Über die Befreiung des Lagers berichtete später der englische Militärarzt
Glyn Hughes: „Die Gräben der Kanalisation waren mit Leichen gefüllt, und in
den Baracken selbst lagen zahllose Tote, manche sogar zusammen mit den
Lebenden auf einer einzigen Bettstelle.“
Bereits am 17. September 1945 begann in einer alten Turnhalle in Lüneburg
der Prozess. Anita Lasker war gerade 20, als sie als Zeugin vom Gericht
vernommen wurde. „Niemand kann fassen, was sich da getan hat, der nicht
dabei gewesen ist“, sagte die 91-Jährige vor wenigen Wochen.
Als bizarr habe sie es wahrgenommen, wie über eine völlig gesetzlose Zeit
auf einmal vor Gericht verhandelt worden sei: „Die Verbrechen lagen ja vor
den Augen.“ Und geleugnet werden konnten sie nicht: Mehr als 50.000
Menschen wurden in dem KZ ermordet, mehr als 60.000 mehr tot als lebendig
gerettet. Noch bis Juni 1945 starben weitere 13.000 an den Folgen von
Hunger, Durst, Folter und Krankheiten.
Zwölf Beschuldigte wurden auch wegen Verbrechen im KZ Auschwitz angeklagt.
Der KZ-Kommandant Josef Kramer war zuvor Kommandant von Auschwitz-Birkenau.
Sein Vertreter Franz Hößler und der Arzt Fritz Klein verantworteten dort
den Tod zahlreicher Menschen in den Gaskammern. Bei den Todesmärschen aus
Auschwitz wurden Gefangene auch nach Bergen-Belsen getrieben. So saßen im
Prozess den Tätern Menschen gegenüber, die Verbrechen in beiden Lagern
bezeugen konnten – unter ihnen Anita Lasker-Wallfisch.
Mit dem Verfahren wollten die Briten den Deutschen auch ein Lehrstück in
Sachen Demokratie und Rechtsstaat vorführen. Rechte der Angeklagten sollten
demonstrativ gewahrt bleiben. Die britischen Truppen hätten „im Angesicht
der Gräueltaten des NS-Regimes ein Zeichen für eine rechtsstaatliche
Aufarbeitung der furchtbaren Verbrechen gesetzt und damit eine bedeutende
Rolle bei der Entwicklung des internationalen Strafrechts gespielt“, heißt
es im Entschließungsantrag der Grünen.
Den Beschuldigten wurden britische Offiziere und Juristen als Verteidiger
zugewiesen, von denen einige als Sympathisanten der faschistischen British
Union galten. „Bedenken Sie“, soll sich einer der Verteidiger an den
Richter gewandt haben, „dass diese Menschen es mit dem Abschaum der Ghettos
von Ost-Europa zu tun hatten“. Verteidiger nahmen die Zeugen ins
Kreuzfeuer. Wann genau sie denn gesehen habe, dass einer der Angeklagten
jemanden ermordete, wurde Anita Lasker etwa gefragt. „Niemand hatte eine
Uhr“, sagte sie.
Elf Angeklagte wurden am 17. November 1945 zum Tode verurteilt und später
in Hameln hingerichtet, 19 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, 15 wurden
freigesprochen. Davongekommen sind aber viele mehr.
Obwohl Medien weltweit über das Verfahren berichteten, bezweifelt der
Historiker John Cramer, der im Göttinger Wallstein-Verlag ein Buch über den
Prozess veröffentlicht hat, einen Lerneffekt für die Mehrheit der
Deutschen. Auch weil insbesondere britische Boulevardzeitungen die Täter
als „Bestien“ beschrieben hätten, sei es für die Masse der Bevölkerung
leicht gewesen, sich von der eigenen Verantwortung für die NS-Verbrechen zu
distanzieren.
„Was haben wir gelernt? Nicht viel“, sagt auch Anita Lasker-Wallfisch.
Aber: „Es war der erste Versuch, mit dem Thema umzugehen.“ Öffentlich kaum
beachtet, folgten 1946 und 1948 noch zwei weitere Bergen-Belsen-Prozesse.
Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher begann am 20.
November 1945 und dauerte fast ein Jahr.
Die Grünen wollen nun die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen
„in angemessener Weise“ in der juristischen Ausbildung verankern. Die
Zentralstelle in Ludwigsburg zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen soll so lange unterstützt werden, wie noch eine Chance besteht,
NS-Verbrecher zu überführen. Und die Strafverfolgung von noch lebenden
NS-Verbrechern soll in Niedersachsen konsequent vorangetrieben werden.
17 Nov 2020
## AUTOREN
Reimar Paul
## TAGS
Holocaust
Bergen-Belsen
Konzentrationslager
Vernichtungslager
NS-Straftäter
NS-Verbrechen
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Schwerpunkt AfD
Wehrmacht
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