# taz.de -- Versorgung ungewollt Schwangerer: Niemand will Abtreibungen | |
> Schwangerschaftsabbrüche wird es immer geben. Verbote ändern daran | |
> nichts. Es ist eine Frage der Gesundheit, nicht der Ideologie. | |
Bild: Demonstration in Krakau im Oktober: Pol*innen wehren sich gegen das Abtre… | |
Während meines Medizinstudiums habe ich die Begriffe „induzierter Abort“ | |
oder „Interruptio“ nicht gehört. Also irgendwo nebenbei vielleicht mal. | |
Aber über Abtreibung wusste ich nach dem Medizinstudium nicht viel mehr als | |
vorher. | |
In Deutschland gab es 2019 dieselbe Anzahl an Blinddarmentfernungen wie an | |
Schwangerschaftsabbrüchen, nämlich rund 100.000. Währen der:die Chirurg:in | |
die Appendektomie perfekt beherrschen muss, kann ein:e Frauenärzt:in ihre | |
Facharztprüfung ablegen, ohne einen einzigen Schwangerschaftsabbruch | |
durchgeführt zu haben. | |
Und das ist gut. Es ist gut, dass die fachärztliche Prüfung abgelegt werden | |
kann ohne die praktische Erfahrung eines Schwangerschaftsabbruchs. Wer | |
persönliche, ethische, religiöse oder welche Bedenken auch immer hat, | |
sollte die Freiheit haben, sich gegen das Durchführen eines Abbruchs zu | |
entscheiden. | |
Nur ändert das nichts daran, [1][dass es im Jahr 100.000 Frauen gibt, die | |
abtreiben]. Es muss also Ärzt:innen geben, die in der Lage sind, diese | |
Abbrüche fachgerecht durchzuführen. Aber deren Anzahl sinkt. 2003 waren es | |
noch 2.050 Praxen und Kliniken, 2020 nur noch 1.152, ergab eine [2][Kleine | |
Anfrage der Linkspartei im Frühjahr]. Mehr Ärzt:innen, die | |
Schwangerschaftsabbrüche durchführen, wird es aber nicht geben, wenn | |
Mediziner:innen mit dem Thema nie in Berührung kommen. | |
## Was ich gerne gelernt hätte | |
Ich hätte im Medizinstudium gerne gelernt, dass die Abtreibungsrate in | |
Ländern, in denen Abtreibung illegal ist, bei 37 von 1.000 Frauen liegt. In | |
Ländern, in denen Abtreibung legal ist, [3][treiben 34 von 1.000 Frauen | |
ab]. In Argentinien starb 2018 eine 34-jährige Frau an den Folgen einer | |
entzündeten Gebärmutter. Sie hatte Petersilie (die menstruationsanregendes | |
Apiol enthält) in die Vagina eingeführt. | |
Ich hätte gerne gelernt, dass man als Ärzt:in Leben rettet, wenn man | |
fachgerechte Abtreibungen durchführt. Laut dem renommierten Guttmacher | |
Institute gehen weltweit 8 bis 11 Prozent der Müttersterblichkeit auf eine | |
Abtreibung zurück, die nicht richtig durchgeführt wurde. Schon heute lassen | |
Schätzungen zufolge Zehntausende Frauen in [4][Polen] entweder illegal | |
abtreiben oder gehen ins Ausland. Diese Zahl wird sich in Polen, vielleicht | |
bald auch in den USA erhöhen. Und damit auch die Sterblichkeit von Müttern. | |
Wir haben die Frage des Schwangerschaftsabbruchs zu einer ideologischen | |
gemacht. Das ist sie aber nicht. Fakt ist: Niemand will Abtreibungen. Auch | |
Frauen, die eine Abtreibung durchführen lassen, wollen sie nicht. Sie | |
wollen nur kein Kind. Auch viele Männer wollen kein Kind. Aber die können | |
einfach weggehen. Eine Frau kann das nicht. Deswegen sind | |
Schwangerschaftsabbrüche eine Realität. Wollen wir das Leben von Müttern | |
retten, müssen wir sicherstellen, dass sie ohne Stigma und Angst Zugang zu | |
einer sicheren, fachgerechten Abtreibung haben. Es wird deswegen nicht mehr | |
Abtreibungen geben. Denn: Niemand will abtreiben. | |
10 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Zahl-der-Schwangerschaftsabbrueche-2018/!5576928 | |
[2] https://kleineanfragen.de/bundestag/19/16988-sicherstellung-der-versorgung-… | |
[3] https://www.guttmacher.org/report/abortion-worldwide-2017 | |
[4] /Konflikt-um-Abtreibungsverbot-in-Polen/!5726275 | |
## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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