Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Protestbewegung in Polen: Geister überlisten, Untote verjagen
> Die neue polnische Protestbewegung kritisiert viel mehr als nur das
> Abtreibungsverbot. Und sie spielt klug mit Traditionen der Literatur.
Bild: Frauenstreik mit schlauen Parolen und Symbolen: hier bei einer Demo in Da…
Als am Abend vor Allerheiligen junge Menschen aus dem Fenster eines
Wohnblocks in der [1][Warschauer Mickiewiczstraße] die Verse des polnischen
Nationalepos „Dziady“ („Ahnenfeier“) von Adam Mickiewicz schreiend
rezitierten, hätte dies nicht symbolhafter sein können. Stark drängte sich
die Erinnerung an die Inszenierung dieses romantischen Theaterstückes 1968
am Warschauer Nationaltheater auf, deren Absetzung durch das damalige
Regime der Volksrepublik eine studentische Protestwelle ausgelöst hat. Und
doch lassen sich keine einfachen Parallelen zwischen beiden Szenen von 1968
und 2020 herstellen.
So eindeutig sich mit dem Ort der Rezitation – direkt gegenüber von
Jarosław Kaczyńskis Villa – der Protest wieder an die nun
katholisch-konservativ nationale Staatsführung richtete, so deutlich
zeigten sich auch der Unterschied zu den Protesten der sechziger Jahre und
ein kultureller Wandel.
Diesmal ist kein bürgerlicher Kulturtempel wie das Theater die Bühne,
sondern ein Plattenbau. Vor allem ist es die Sprache der [2][seit dem 22.
Oktober andauernden, landesweit organisierten Demonstrationen], die eine
Differenz zu den nationalistisch-religiösen Parolen aus Regierungskreisen
und politisch stark engagiertem Klerus markiert. Ihre Wut gegen die
Verschärfung des Abtreibungsverbots drücken die Frauen mittels einer
vulgären Direktheit aus: „Jebać PiS!“ (Fuck PiS!) / JBC PIS, auch getarnt
als ***** ***, wie auch „Wypierdalać“ (Get the fuck out).
## Wort und Bild sind stärker
Damit ist es ihnen gelungen, ihrer Wut und Erschütterung eine schnell viral
gehende Protestform zu verleihen, ohne auf gewaltsame Konfrontation zu
setzen. Den primitiv anmutenden männlichen Gruppen, die sich, angestachelt
durch Kaczyńskis Aufruf, die Kirchen um jeden Preis zu schützen, formierten
und durchaus physische Gewalt einsetzten, wurde die sichtbare Schlagkraft
von Wort und Bild entgegengesetzt.
Der rote Blitz – das Emblem von Strajk Kobiet (Streik der Frauen) –, der
schwarze Regenschirm, der Bügel und mittlerweile auch die zu einer Ikone
gewordene Erscheinung einer jungen Frau mit nacktem Oberkörper,
ausgestreckten Mittelfingern und Bengalo auf einer der Kundgebungen in
Warschau.
Der mehrfach herangezogene plakative Vergleich mit Delacroix’ Gemälde „Die
Freiheit führt das Volk“ von 1830 gilt nicht mehr, denn solch männlich
dominierte Vorstellungen von Frauenkörpern werden nun im Polen der
Gegenwart selbstbewusst durch eine eigene Bildkraft ersetzt.
## Enthüllung der nackten Wahrheit
Die Enthüllung der sogenannten nackten Wahrheit in einer
malerisch-weiblichen Allegorie, die seit jeher jede gewaltsam ausbrechende
Revolution begleitete, wurde mit diesem Akt der Selbstentblößung
diskreditiert. Mit dieser souveränen Geste wird das Abtreibungsverbot
seiner hochtrabenden Rhetoriken der religiösen Apologie beraubt und direkt
auf die Ebene der konkreten Lebens- und Leidenserfahrung einer sich
empathisch solidarisierenden, organisiert widerstandsfähigen Generation
heruntergestuft.
Allein der glänzende Nagellack der erhobenen Faust auf einem der Bilder
sagt schon alles: Das in diesem Kontext zirkulierende Motiv setzt auf
solidarische Entschlossenheit als Antidot gegen physische Überlegenheit.
Der Schriftzug „Dość“ (Genug) signalisiert zugleich, dass es sich
mittlerweile um viel mehr handelt als allein um die Zurückweisung des neuen
Anti-Abtreibungs-Gesetzes.
Dieser Frauenrevolte geht es um Menschenrechte, jene, die durch den
aktuellen staatlichen Diskurs angegriffen werden wie etwa auch die von
LGBTQ oder Behinderten. Paradoxerweise wird durch die Verwendung von
Vulgarismen das erhabene Mauerwerk der in sakralpolitische Hochtöne
eingehüllten männlichen Autorität angegangen.
## Zur Begrüßungsformel umgeschmiedet
Der Spruch „Jebać PiS!“ wurde schnell landesweit in tanzbare
Techno-Beat-Adaptationen übersetzt, auf der Ukulele gespielt, in gestreamte
Protestsongs eingearbeitet und sogar zur Begrüßungsformel umgeschmiedet.
Somit wurde das Gewaltpotenzial der Vulgarität gebrochen. Der Spruch
avancierte zu einem rhythmischen, in den eher humorlosen Coronazeiten sogar
unterhaltsamen Ausdruck des Zorns im programmatisch gewaltlosen Protest.
Mittlerweile ist das Akronym der regierenden Partei (PiS) nicht mehr ohne
diesen negierenden Zusatz zu denken. Während die Regierungs- und
Kirchenkreise immer noch ihre Empörung angesichts der präzedenzlosen
Direktheit dieser offenen, das Patriarchat schlagartig entzaubernden
Blasphemie kultivieren, floriert bei den Protestierenden eine ausgeprägte,
souveräne Art der zitierfreudigen Ironie und des weiblichen Widerstands.
[3][Kunst und Literatur], inklusive fiktiver, umgearbeiteter und viral
gehender Zitate aus schulischen Pflichtlektüren, Sprichwörtern und
Computerspielen begleiten die befreiende Enthemmung einer ganzen
Generation. Was insofern auf den ersten Blick wie ein Zusammentreffen von
Jugendkultur und Feminismus erscheint – ein bisschen Lady Gaga, ein
bisschen Billie Eilish –, demontiert das männliche Selbstverständnis einer
konservativen, nationalen Identität.
## Lest Maria Janion!
Wenn auf Plakaten zu lesen ist „Lest Maria Janion!“, wird auch gerade auf
die Analyse dieser Literaturwissenschaftlerin von Mickiewiczs „Ahnenfeier“
als Form der Bewältigung von nationalen Wiedergängern Bezug genommen. Die
im August dieses Jahres im Alter von 93 Jahren verstorbene Maria Janion war
nicht nur Literaturwissenschaftlerin, sondern auch Ikone des polnischen
Feminismus. Sie beschrieb, wie zu diesen Wiedergängern auch heute noch die
männliche Vorstellung einer göttlichen Auserwähltheit, Messianismus und
vermeintliche Aufopferung für die Nation zählen.
In Mickiewiczs Drama spielen akademische Vereinigungen von jungen
rachsüchtigen Männern die Hauptrolle: Romantische Dissidenten, Gefangene
und Märtyrer leiden an der Unterdrückung durch den Zaren genauso wie unter
ihren eigenen inneren Konflikten und Phantasmen als gesegnete Akteure der
messianischen Befreiung. Im dunklen, gespenstischen zweiten Teil des Dramas
geht es allerdings gerade um die Beschwörung von Geistern, Dämonen und
Untoten, ihre zyklische Hervorrufung, Überlistung und Vertreibung.
In der Verfilmung der „Ahnenfeier“ von 1989 wurde diese Rolle
markanterweise von einer Frau übernommen. 2020 verwandelt sich dieses
vorchristliche slawische Ritual in einen Befreiungsakt: Die auf der
Fensterbühne durch ein Mikrofon ausgeschrienen Verse des altehrwürdigen
Gespensterdramas, begleitet von Technosound, weißem Rauch und bengalischem
Feuer, verkörpern die konkretisierende Kraft dieser Revolte. Mickiewiczs
gegen Untote gerichtete altpolnische Ritualansprache „A kysz!“
(Verschwinde!), ausgerufen direkt vor Kaczyńskis Haus, verwandelte den
Mythos, das Pathos und das Epos in nackte Aktualität.
Diese alte Beschwörungsformel legte kurzzeitig den tieferen, kulturell
verankerten und über die bloße Vulgarität hinausgehenden Sinn des „JBC PIS…
frei. Ein avantgardistisch brutaler Umgang mit der traditionellen Kultur,
ihre pauschale Verneinung, kann den Demonstrierenden also nicht vorgeworfen
werden. Vielmehr werden wir Zeugen eines Kulturexorzismus.
12 Nov 2020
## LINKS
[1] /Konflikt-um-Abtreibungsverbot/!5724935/
[2] /Konflikt-um-Abtreibungsverbot-in-Polen/!5726275/
[3] /Literaturnobelpreis-fuer-Olga-Tokarczuk/!5628930/
## AUTOREN
Mateusz Kapustka
## TAGS
Polen
Schwerpunkt Abtreibung
Frauenstreik
Feminismus
Literatur
Schwerpunkt Abtreibung
Frauenrechtlerin
Schwerpunkt Abtreibung
PiS
Polen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verschärfung des Abtreibungsrechts: Tausende auf den Straßen
In Polen haben tausende Menschen gegen das Inkrafttreten eines nahezu
vollständigen Abtreibungsverbots protestiert. In mehreren Städten gab es
Demos.
Streit um nackte Frauenstatue in London: Feministin zum Pin-up geschrumpft
Die Philosophin und Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft bekommt in London
ein Denkmal. Doch ihr Abbild sorgt für Diskussionen.
Versorgung ungewollt Schwangerer: Niemand will Abtreibungen
Schwangerschaftsabbrüche wird es immer geben. Verbote ändern daran nichts.
Es ist eine Frage der Gesundheit, nicht der Ideologie.
Konflikt um Abtreibungsverbot in Polen: Verzögert, vertagt
Eigentlich sollte in Polen längst das angekündigte totale Abtreibungsverbot
in Kraft treten. Stattdessen wird der Rücktritt der Regierung diskutiert.
Konflikt um Abtreibungsverbot: Massenproteste in Polen
In Warschau und anderen Städten demonstrierten Polinnen am Freitag gegen
ein Urteil des Verfassungsgerichts. Doch es geht um mehr.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.