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# taz.de -- Filme „Schlaf“, „Paradies“ und „Rivale“: Niedersachsen …
> Das Braunschweiger Filmfestival zeigt drei Niedersachsen-Filme, die
> allesamt Tristesse inszenieren. Die Filme sind noch bis Sonntag online
> verfügbar.
Bild: Beklemmendes Kammerspiel auf dem platten Land: Szene aus dem Film „Riva…
Die eine kann nicht aufwachen, die andere will nicht sterben, der dritte
kann mit niemandem reden. Den Protagonist*innen in den Filmen „Schlaf“,
„Paradies“ und „Rivale“ geht es nicht gut. Weshalb ihre Regisseure sie …
tristen Filmwelten zeigen, die nichts Heimisches an sich haben. Gedreht
haben sie in Clausthal-Zellerfeld, bei Salzgitter und in Braunschweig. Das
Niedersachsen dieser Filme, die auf dem Braunschweiger Filmfestival in der
Sektion „Heimspiel“ laufen, hat nichts mit den idyllischen sommerlichen
Landschaften zu tun, die im Kino, vor allem aber im Fernsehen für
gewöhnlich die norddeutsche Provinz repräsentieren.
Einen „Heimat-Horrorfilm“ nennt der Regisseur Michael Venus seinen Film
„Schlaf“, denn bei ihm ist der Harz eine Welt wie aus einem bösen Märchen.
Da gibt es ein verfallenes Hexenhaus, vor allem aber ein leer stehendes und
fluchbeladenes Hotel, das an das „Overlook-Hotel“ in Stanley Kubricks
„Shining“ erinnert. Abgesehen von einem kleinen Zitat (einem Zoom auf eine
historische Fotografie) hat Michael Venus aber auf direkte Zitate aus dem
Horrorklassiker verzichtet.
Doch er arbeitet und spielt viel mit den Stilmitteln des Gruselkinos. So
gibt es etwa gleich eine ganze Reihe von Albträumen, die wie eine
schreckliche Realität wirken, bis die Träumende aufwacht – oder bleibt sie
in einem Traum im Traum gefangen? Dies fragt sich die von Gro Swantje
Kohlhof gespielte Mona, als sie in dem Dorf Stainbach von den gleichen
Visionen geplagt wird, die ihre Mutter (Sandra Hüller) so entsetzt haben,
dass sie darüber ins Wachkoma gefallen ist. Die Patriarchen des Ortes
begehen der Reihe nach Selbstmord, bis nur noch der Besitzer des Hotels
übrig bleibt – der seinerseits über Leichen geht, um sein Dorf rein deutsch
zu halten.
Ja, der Ursprung des Schreckens wird hier auf die deutsche Vergangenheit
zurückgeführt. Es geht um Fremdenfeindlichkeit, faschistischen Größenwahn
und toxische Männlichkeit. Und nur die Frauen wehren sich gegen dieses
Böse, egal ob sie nun Träumerinnen oder Geträumte sind. „Schlaf“ ist ein
extrem spannender und stimmungsvoll inszenierter Genrefilm – doch wirklich
interessant macht ihn seine gesellschaftspolitische Radikalität.
Immanuel Essers „Paradies“ hat nichts Paradiesisches an sich. Er spielt in
einer extrem minimalistischen Welt, die nur aus Agrarlandschaften besteht:
Felder, Wälder, Landstraßen und Forstwege – kein Haus, keine Kultur, keine
Gesellschaft. Und es gibt dort auch keinen natürlichen Tod mehr. Das
Sterben ist zu einer bürokratischen Angelegenheit geworden. Drei
Mitarbeiter*innen der „Wiederverwertungsgesellschaft STYX“ fahren in ihrem
weißen Lieferwagen übers Land und suchen Menschen auf, deren
Todeszeitpunkte präzise auf einer Liste vermerkt sind. Ein Blick auf die
Uhr, ein Knopfdruck – und dann der Abtransport der Leiche in einem
schwarzen Plastiksack.
Die Arbeit ist zur Routine geworden, bis die drei den Auftrag bekommen,
einen der ihren zu tilgen. Auch hier ist es die Frau, die damit beginnt,
sich gegen die Verhältnisse zu wehren. Doch bald hinterfragen auch ihre
Kollegen den Sinn ihrer Arbeit und sie beginnen das scheinbar perfekte
System zu sabotieren.
Der absurden Geschichte entspricht die hochstilisierte Inszenierung. Die
Tötungen finden entweder im Off oder weit entfernt in Totalen statt.
Nahaufnahmen gibt es nur von den drei Kolleg*innen und oft wirken die
Einstellungen wie Rätselbilder, bei denen man genau hinsehen muss, um zu
erkennen, was da überhaupt gerade gezeigt wird. Auch die Filmmusik ist mit
Kompositionsfragmenten, die auf der Marimba und einem Banjo gespielt
werden: sehr reduziert und seltsam. Mit erstaunlich geringen Mitteln hat
Esser eine in sich stimmige, surreale Parabel über Gesellschaft, Tod,
Bürokratie und Rebellion gestaltet. Und da er all das mit einem ganz
eigenen, trockenen Witz erzählt, wirkt sein Film nie wie eine Kopfgeburt.
In „Rivale“ erzählt Marcus Lenz konsequent aus der Perspektive des
9-jährigen Roman, der in einem Lieferwagen aus der Ukraine nach Deutschland
geschmuggelt wird. Dort wartet seine Mutter Oksana auf ihn, die illegal als
Pflegerin arbeitet. Sie lebt mit dem Rentner Gert zusammen, in dessen
Wohnung sie und ihr Sohn sich verstecken müssen.
Weil Lenz sich ganz auf diese drei Personen konzentriert, entwickelt der
Film sich schnell zu einem Kammerspiel. Roman sieht in Gert von Anfang an
seinen Rivalen, mit dem er um die Aufmerksamkeit seiner Mutter kämpft.
Roman spricht kein Wort Deutsch und niemand erklärt ihm die Umstände, unter
denen er nun leben muss. Er ist völlig isoliert und kann die neue Welt, in
die er gestoßen wurde, nicht verstehen. Seine Missverständnisse führen dann
zu tragischen Konsequenzen.
Wie Michael Venus arbeitet auch Marcus Lenz mit den Stilmitteln des
Genrekinos. Doch er versucht, sie zu dekonstruieren, und führt dabei das
Publikum immer wieder in die Irre. Da wird oft Spannung aufgebaut, die
Musik schwillt zu einem Crescendo an, was das Schlimmste erwarten lässt –
und dann doch wieder nur falscher Alarm war. Wirklich spannend ist der
Thriller auch darum nicht, weil er zu vorhersehbar gebaut ist. So bringt
etwa Gert dem 9-jährigen Jungen in einer wenig plausiblen Sequenz das
Schießen mit einem Jagdgewehr bei, damit das Finale möglichst gefährlich
werden kann. Man merkt die Absicht und ist verstimmt.
5 Nov 2020
## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Deutscher Film
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Braunschweig
Niedersachsen
Filmfestival
Horrorfilm
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