# taz.de -- Hartz-IV-Bezieher:innen berichten: „14 Euro mehr sind ein Witz“ | |
> Die Bundesregierung will die Hartz-IV-Sätze um ein paar Euro erhöhen. | |
> Betroffene berichten der taz, warum das Geld weiterhin nicht ausreicht. | |
Bild: 14 Euro mehr Hartz IV ist für viele Betroffene nicht ausreichend | |
BERLIN taz | Am Donnerstag berät der Bundestag einen Gesetzentwurf zur Höhe | |
der Hartz-IV-Sätze in zweiter Lesung. Dabei wird es vor allem um Zahlen | |
gehen. Denn zum 1. Januar 2021 [1][sollen die Sätze steigen]: Es sind | |
Zahlen, die in Deutschland ein menschenwürdiges Existenzminimum festlegen | |
sollen. Zahlen, die über Armut und Teilhabe in dieser Gesellschaft | |
entscheiden. Darüber, wie gut oder schlecht ein Mensch, der in eine soziale | |
Notlage gerät, leben kann. Was denken die Betroffenen? | |
## „Von der Gesellschaft total ausgeschlossen“ | |
„Ich kommuniziere offen, dass ich Hartz IV beziehe. Aber es geht mir dabei | |
richtig schlecht. Als ich gemerkt habe, dass ich jetzt mit dem | |
Hartz-IV-Satz berechtigt bin, zur Tafel zu gehen, habe ich einen Tiefpunkt | |
erreicht. Ich fühle mich hilflos. Wenn es nur eine Übergangszeit wäre, wäre | |
das nicht so schlimm. Aber perspektivisch weiß ich gar nichts. Ich stehe | |
immer unter extremem Druck, irgendwas machen zu müssen. | |
Im Sommer 2020 habe ich meine Ausbildung abgeschlossen. Schon da musste ich | |
in Kurzarbeit gehen – wegen Corona. Während meiner Ausbildung habe ich | |
aufgestockt, weil meine Ausbildungsvergütung nicht so hoch war, dass ich | |
davon leben konnte. Nach der Ausbildung habe ich Arbeitslosengeld I | |
bekommen, musste aber wegen der geringen Vergütung zusätzlich Hartz IV | |
beantragen. Außerdem hatte ich keine Ahnung, auf welche bürokratischen | |
Hürden ich treffe. Ich wusste etwa nicht, dass Jobcenter und Arbeitsagentur | |
komplett verschiedene Behörden sind. Das war für mich oft relativ schwer, | |
ich wusste nicht: Wem schicke ich gerade welche Information? | |
Durch Corona ist meine berufliche Unsicherheit sehr groß. Wann wieder | |
Veranstaltungen stattfinden, ist unklar. Alles ist in der Schwebe. Ich will | |
nur wieder arbeiten, aber wenn sich das nicht in den nächsten Jahren | |
bessert, muss ich umsatteln. Sonst krieg ich das psychisch nicht mehr hin. | |
Seit März hab ich nichts mehr zu tun, ein weiteres Jahr halte ich das nicht | |
aus. Wenn du nicht arbeitest, bist du von der Gesellschaft total | |
ausgeschlossen. In vielen Branchen können die Leute einfach arbeiten und | |
kriegen nicht mit, dass es Leute gibt, bei denen das gerade nicht geht. Die | |
stressen rum, weil sie nicht mehr in den Urlaub fahren können. Wenn das das | |
größte Problem ist, dann haben wir wirklich kein Gesprächsthema mehr. | |
14 Euro mehr Hartz IV bringen nicht viel. Mir wäre es wesentlich lieber, | |
wenn es stattdessen eine bessere Kommunikation mit den Ämtern gäbe und mehr | |
Informationen, wie was funktioniert.“ | |
Lara Tieme (Name geändert), 30, aus Leipzig beendete 2020 ihre Ausbildung | |
als Veranstaltungstechnikerin | |
## „Als würde ich mich vor dem Amt ausziehen“ | |
„Bis März waren wir fast für das ganze Jahr ausgebucht, doch mit Corona kam | |
der Einbruch: Meine Frau und ich können unseren Beruf als freischaffende | |
Fotograf:innen nicht mehr ausüben. Alle Messen und Events wurden abgesagt, | |
wir hatten keine Einnahmequellen mehr. Wir haben sofort Hartz IV beantragt, | |
weil wir keine Rücklagen hatten. Damit können wir Zahlungen wie die | |
Krankenversicherung sicherstellen. | |
Es ist komisch, vor den Ämtern so viele Informationen über sich | |
preiszugeben – es fühlt sich an, als würde ich mich ausziehen. Wir bekommen | |
Kindergeld und den niedrigsten Hartz-IV-Satz. Damit müssen wir klarkommen. | |
Aber ich bin trotzdem froh, eine Absicherung zu haben. | |
Unser Kaufverhalten mussten wir gehörig einschränken. Es war ein Umlernen, | |
nicht mehr die teure Milch aus dem Bioladen oder das teure Brot vom | |
Biobäcker zu kaufen – kurz: sich auf Hartz IV einzustellen. Erst in den | |
letzten drei Monaten haben wir angefangen, mit unseren Freund:innen über | |
unsere Situation zu reden. Das macht verwundbar, es ist erst mal ein | |
sozialer Abstieg. Mit den Kindern gehen wir so offen wie möglich um. Ich | |
will ihnen nichts verheimlichen. Du kannst deinen Kindern nicht sagen: ‚Wir | |
gehen jetzt essen, wir gehen schwimmen, wir machen einen Ausflug oder eine | |
Reise.‘ Das fällt flach. | |
Die Kund:innen melden sich einfach gar nicht mehr. Und du denkst dann: | |
‚Haben die mich vergessen?‘ Das kratzt an der Seele. | |
Die Ungewissheit wächst mit jedem Tag, ich plane gar nichts mehr. Dass es | |
weiter so bleibt und wir vielleicht irgendwann nicht mehr in diesem Haus | |
wohnen können oder unser soziales Umfeld wegbricht. Ein stabiler familiärer | |
Background hilft, das auszuhalten. Wenn der Hartz-IV-Satz um 14 Euro erhöht | |
wird, ist das nicht wesentlich. Wenn wir über 50 Euro sprechen, ist das ein | |
Einkaufskorb die Woche mehr. Aber da drunter, das ist zu wenig. Das ist | |
eher ein falsches Signal.“ | |
Max Senneburg (Name geändert), 47, ist Fotograf und lebt mit seiner Frau | |
und zwei Kindern in Berlin | |
## „Die Armen müssen um jeden Cent betteln“ | |
„Zwei meiner Kinder leben bei mir, eines bei der Mutter. Die Kinder kennen | |
mich als zwei verschiedene Papas. Wenn ich arbeitslos zu Hause bin und wenn | |
ich arbeite. Deshalb wissen sie, dass es einfacher ist, mit Geld | |
auszukommen, wenn man Arbeit hat. Ich glaube, dass Bildung wichtig ist, um | |
einen guten Beruf und ein auskömmliches Einkommen zu haben. Deshalb | |
ermutige ich die drei immer, in der Schule fleißig zu sein. | |
Bis Dezember 2019 habe ich bei einem Bürger:innenverein in Leipzig | |
gearbeitet. Dort habe ich Menschen darüber beraten, welche Leistungen sie | |
beim Jobcenter in Anspruch nehmen können. Ich bin auch schon lange bei der | |
Erwerbsloseninitiative Leipzig aktiv. Wir betreuen und beraten Leute etwa | |
bei der Antragstellung beim Amt. Deshalb war es für mich leichter, die | |
Prozesse zu verstehen, als ich selbst arbeitslos geworden bin. Man weiß, | |
wie man mit den Behörden umzugehen hat. Für Menschen, die zum ersten Mal in | |
so einer Situation sind und noch nie zuvor damit zu tun hatten, ist das | |
viel schwieriger. | |
Wenn man Hartz IV bezieht, sollte man sich grundsätzlich nicht schämen. Ich | |
ermutige alle Menschen, staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen. Es gibt | |
beispielsweise viele Alleinerziehende, die nicht den Mut haben, Wohngeld zu | |
beantragen. Ich finde, die Unterstützung, die es gibt, sollte man für sich | |
und die Kinder nutzen. | |
Während der Coronapandemie fällt einmal mehr auf, wie die Gelder verteilt | |
sind: Die großen Firmen und Erwerbstätigen bekommen staatliche Förderungen. | |
Die Armen – also diejenigen, die sowieso schon wenig haben – müssen im | |
Prinzip um jeden Cent betteln. Deshalb lässt sich die Erhöhung des | |
Hartz-IV-Regelsatzes sehr kurz zusammenfassen: Es ist ein Witz. Es ist | |
lächerlich. | |
Alles wird teurer: Fahrkarten, Kleidung, Telefonrechnungen. Was bringen da | |
14 Euro? Die Politik muss ein deutlicheres Signal senden, dass sie arme | |
Menschen unterstützen will.“ | |
Perry Feth, 55, ist Vater von drei Kindern und arbeitete in einem Leipziger | |
Bürgerverein | |
## Die Details des Gesetzentwurfs: | |
Der Gesetzentwurf von Bundessozialminister Hubertus Heil sieht vor: Allein | |
lebende Personen sollen ab nächstem Jahr 446 Euro im Monat bekommen – das | |
sind 14 Euro mehr als bisher. Das muss reichen für Lebensmittel, Strom, | |
neue Winterschuhe oder auch mal einen Kinobesuch – auch wenn kulturelle | |
Teilhabe in der Coronazeit weit entfernt erscheint. | |
Am stärksten steigt der Satz für Teenager zwischen 14 und 17 Jahren: Sie | |
sollen künftig 373 Euro pro Monat, das sind 45 Euro mehr, bekommen. Der | |
Satz für Kinder bis zu 5 Jahren steigt um 33 Euro auf 283 Euro, 6- bis | |
13-Jährige profitieren hingegen kaum: Sie sollen 309 Euro bekommen – genau | |
1 Euro mehr als jetzt. Das Bundessozialministerium erklärte, dass diese | |
Altersgruppe bei der letzten Neuberechnung für das Jahr 2017 „weit | |
überproportional profitiert“ habe. Dennoch: Die Logik der Zahlen ist trotz | |
klarer Berechnungsmethoden nicht zwingend nachvollziehbar. | |
Die Regelsätze werden einerseits jährlich an die Entwicklung der Nettolöhne | |
und an die Preisentwicklung „regelbedarfsrelevanter“ Güter angepasst. Zudem | |
ist der Gesetzgeber dazu verpflichtet, die Regelsätze alle fünf Jahre neu | |
zu ermitteln, wenn das Statistische Bundesamt die Einkommens- und | |
Verbrauchsstichprobe durchgeführt hat. Es ist eine Befragung über Einnahmen | |
und Ausgaben aller Einkommensgruppen. | |
Das Bundessozialministerium orientiert sich dann zur Ermittlung der | |
Hartz-IV-Sätze nur an den durchschnittlichen Ausgaben der | |
Einkommensschwächsten, der ärmsten 15 bis 20 Prozent der Gesellschaft. Aus | |
deren Ausgaben werden zudem Posten herausgerechnet, die als nicht | |
„bedarfsrelevant“ gelten. Dazu zählen zum Beispiel: Ausgaben für | |
alkoholische Getränke, Zigaretten, Futter für Haustiere, Flüge, | |
Unterhaltskosten für ein Auto oder die Kosten für Zimmerpflanzen. Die Summe | |
wird also konsequent kleingerechnet. | |
## Das sagen Sozialverbände und Opposition: | |
Verbände, Gewerkschaften und Wissenschaftler:innen kritisieren schon seit | |
Jahren diese Berechnungsmethode der Bundesregierung. Denn statistische | |
Berechnungen müssen sich nicht mit der Lebensrealität der Menschen decken. | |
Die sieht oftmals so aus: Hartz-IV-Empfänger:innen greifen auf das | |
Angebot der Tafeln zurück, um überhaupt über die Runden zu kommen. | |
Anja Piel vom Deutschen Gewerkschaftsbund hält es für „unredlich und | |
zynisch“, die Neuberechnungen den Ärmsten als „Erhöhung zu verkaufen“. … | |
mit dem neuen Regelsatz liege das Hartz-IV-Leistungsniveau „unterhalb der | |
offiziellen Armutsgrenze“. | |
Der Paritätische Gesamtverband bezeichnet die geplanten Sätze als | |
„realitätsfern, nicht bedarfsgerecht und viel zu niedrig“ und wirft der | |
Bundesregierung „statistische Trickserei und unverschämtes Kleinrechnen“ | |
vor. Nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle müsste ein | |
armutsfester Regelsatz für einen allein lebenden Erwachsenen 644 Euro | |
betragen. Knapp 200 Euro mehr pro Monat als jetzt geplant. | |
Die Opposition ist sich überwiegend einig, dass die von der Bundesregierung | |
errechneten Sätze nicht zum Leben reichen. Durch ein künstliches | |
Kleinrechnen des Bedarfs würden die Betroffenen zu einem Leben in Armut | |
verdonnert, kritisierte Linken-Vorsitzende Katja Kipping bei der ersten | |
Lesung im Bundestag. | |
Der Grünen-Sozialpolitiker Sven Lehmann erklärte: „Eine Anhebung des | |
Regelsatzes um 14 Euro für Erwachsene gleicht im Wesentlichen die | |
gestiegenen Preise aus und verpufft damit.“ Beide Parteien haben deshalb | |
noch mal neu berechnet: Die Linke möchte, dass der Regelsatz für einen | |
alleinstehenden Erwachsenen [2][auf 657,55 Euro erhöht wird]. Die Grünen | |
fordern 603 Euro pro Monat. | |
Der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Pascal Kober, | |
will hingegen eine grundlegende Hartz-IV-Reform. „Euroweise Erhöhungen | |
führen letztlich nicht weiter“, findet er. Die FDP fordert höhere | |
Zuverdienstgrenzen, damit die Betroffenen mehr von ihrem selbst verdienten | |
Geld behalten dürfen. | |
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit lebten in diesem Oktober 5,6 | |
Millionen Menschen in Bedarfsgemeinschaften. Durch die Coronapandemie ist | |
mit einer deutlichen Zunahme von Armut und Erwerbslosigkeit zu rechnen. | |
Dies wird sich bald auch in Zahlen niederschlagen – und hinter diesen | |
stehen Menschen, die rechnen müssen, ob sie ihre Stromrechnung oder neue | |
Atemschutzmasken bezahlen können. | |
5 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
Christina Gutsmiedl | |
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