| # taz.de -- Baukultur der Roma: Fassade als Selbstermächtigung | |
| > In Dortmund steht ein Haus, das die erstaunliche Geschichte der | |
| > Roma-Baukultur erzählt. Prunkstück der Fassade ist das Versace-Logo. | |
| Bild: Fassade oder Fassade? Auf jeden Fall Selbstermächtigung | |
| Dortmund taz | In der Schleswiger Straße in der Dortmunder Nordstadt steht | |
| ein Haus mit einer bemerkenswerten Fassade: Sie ist bemalt mit | |
| geometrischen Mustern in bunten Farben, hat ein schmales Vordach aus Metall | |
| und gleich viermal prangt auf ihr groß und golden leuchtend das | |
| Versace-Logo mit dem Kopf der Medusa. | |
| Das sehr sehenswerte Haus erzählt gleich mehrere Geschichten: Die der Roma | |
| als marginalisierte, verfolgte und stigmatisierte Bevölkerungsgruppe | |
| Europas, die ihrer Baukultur und die eines nicht ganz einfachen politischen | |
| und künstlerischen Prozesses in der Stadt Dortmund, der zum Ziel hat, | |
| Roma-Baukultur sichtbar zu machen und die Community besser in die | |
| Stadtgesellschaft zu integrieren. | |
| [1][Der Dortmunder Hartware Medienkunstverein] ist tiefer ins Thema | |
| eingestiegen und zeigt dazu die bis ins nächste Frühjahr (also hoffentlich | |
| nach dem Lockdown noch zu besichtigende) Ausstellung „Faţadă/Fassade“. | |
| Einige der wenigen Besucher*innen, die sie nach ihrer Eröffnung Ende | |
| Oktober noch erleben durften, wurden erst einmal mit einer kognitiven | |
| Dissonanz konfrontiert: Auch hierzulande hat sich die Zuschreibung der Roma | |
| als „fahrendes Volk“ tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. | |
| ## Warum hat ein „fahrendes Volk“ Häuser? | |
| Verbunden ist er mit dem Begriff „Zigeuner“, der zwar inzwischen klar als | |
| diskriminierend erkannt ist, aber trotzdem immer noch für Diskussionen | |
| sorgt. Der Hersteller Kraft hat erst in diesem Sommer seine „Zigeunersauce“ | |
| in „Paprikasauce Ungarischer Art“ umbenannt – Heino machte hingegen | |
| kürzlich Schlagzeilen damit, dass er in einem seiner Lieder trotzdem weiter | |
| von „Zigeunersauce“ singen will. | |
| Warum also hat ein „fahrendes Volk“ nicht nur Häuser, sondern sogar eine | |
| eigene Baukultur? Auch aus der speziellen Baukultur, die sich vor allem in | |
| den letzten 30 Nachwendejahren in Rumänien entwickelt hat, lässt sich ein | |
| Teil der Antwort herauslesen. Die Gruppe der Roma wurde bis ins 19. | |
| Jahrhundert hinein nicht nur verfolgt, sondern auch versklavt. | |
| Mit dem Rassenwahn, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur | |
| im Holocaust schreckliche Gestalt annahm, kam es auch in Rumänien [2][zu | |
| ethnischem Hass und Massenmorden an Rom*nja] – nach offiziellen Zahlen | |
| sollen 38.000 getötet worden sein, darunter 6.714 Kinder. | |
| ## Das Haus als Ort der Repräsentation | |
| Der Nomadismus gehört zwar zu einem Teil der eigenen Identität der Roma, | |
| beruht aber vor allem auf wirtschaftlichen Zwängen – viele der an den | |
| gesellschaftlichen Rand Gedrängten verdingten sich als fahrende | |
| Kupferschmiede, Blech-, Eisen- oder Silberschmiede und Holzschnitzer. Bis | |
| heute leben Rom*nja teilweise von diesen Gewerben oder auch vom | |
| Metallhandel, sind aber überwiegend sesshaft, teils aus eigenem Antrieb, | |
| teils weil Nomadismus zur Zeit der sozialistischen Diktatur in Rumänien | |
| verboten wurde. | |
| Kommen Rom*nja zu eigenen Häusern, die sich zumeist an den Rändern | |
| rumänischer Städte befinden, dann nutzen einige diese Häuser nicht in | |
| erster Linie als Wohnort, sondern als Ort der Repräsentation und | |
| kulturelles Zeichen. Neben den Metallaufbauten und Sprenglerarbeiten weisen | |
| sie oft Mansardenfenster, Säulen und kleine Balkone auf, die eigentlich auf | |
| die französische Baukultur des 19. Jahrhunderts verweisen. | |
| Diese war in Rumänien sehr beliebt – und Rom*nja waren oft als Arbeiter an | |
| ihrem Bau beteiligt. Haben sie jetzt die Chance auf eigene Häuser, spielen | |
| sie selbst mit einer Form, die in der Ausstellung als | |
| „Post-Internet-Ästhetik“ bezeichnet wird und die Ausdruck oder Behauptung | |
| eines neuen Selbstbewusstseins ist: Die Häuser weisen Elemente von | |
| Neorenaissance und Bollywoodkitsch und eben Luxusemblemen wie dem | |
| Versace-Logo oder dem Mercedes-Stern auf. | |
| ## Unterstützung durch die Politik | |
| Dass Dortmund jetzt solch ein Haus im Stadtbild hat, ist einer Vielzahl von | |
| Akteuren zu verdanken: Zum einen ist die Roma-Community selbst stark in der | |
| Stadt, macht sich seit Jahren mit dem Kulturfestival „Djelem Djelem“ | |
| sichtbar. Zum anderen hat die Politik aktiv gegen die negativen | |
| Schlagzeilen über „Problemhäuser“ in der Nordstadt gearbeitet, in denen o… | |
| Rom*nja unter ausbeuterischen Mietverhältnissen mehr hausen als wohnen | |
| mussten. | |
| „Kulturdezernent Jörg Stüdemann hat sich persönlich dafür starkgemacht, | |
| dass das Haus in der Schleswiger Straße von der Stadt erworben und | |
| denselben Mietern zu normalen Bedingungen angeboten werden konnte“, sagt | |
| Fabian Saavedra-Lara. Er ist Kurator des Netzwerks Interkultur Ruhr, das | |
| 2016 die Künstler Christoph Wachter und Matthias Jud zu einer Residenz im | |
| Ruhrgebiet einlud und sie bat, der Frage nach architektonischer | |
| Repräsentation im Stadtraum nachzugehen. | |
| Daraus ist eine Werkstatt in der Dortmunder Nordstadt entstanden, in der | |
| Rom*nja-Handwerker und -Künstler die Dortmunder Fassade und eine Menge | |
| weitere Hausmodelle nach originalen Roma-Bauten aus Rumänien entworfen und | |
| gebaut haben. | |
| Künstler Christoph Wachter, der seit rund zehn Jahren zur Marginalisierung | |
| der Gruppe der Roma arbeitet, ist mit dem bisherigen Ergebnis zufrieden, | |
| würde sich für die Zukunft jedoch noch weitergehende Formen der | |
| Ermächtigung wünschen: „Warum nicht auch die Presse- und | |
| Öffentlichkeitsarbeit und die Kuration solcher Ausstellungen mit | |
| Mitgliedern der Community besetzen?“ | |
| 4 Nov 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ausstellung-zu-Brutalismus/!5407058 | |
| [2] /Dokufilm-ueber-Roma-im-Holocaust/!5713307 | |
| ## AUTOREN | |
| Max Florian Kühlem | |
| ## TAGS | |
| Dortmund | |
| Roma | |
| Architektur | |
| Musik | |
| Museum | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Kunst | |
| Afrofuturismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Schallplattenlabel pläne: Ohrwürmer für ein linkes Publikum | |
| Das Schallplattenlabel pläne beschallte die westdeutsche Friedensbewegung | |
| der 1970er und 1980er Jahre mit DDR-Unterstützung. Ein Porträt. | |
| Als die Gespenster nach Hattingen kamen: Rückkehr der Arbeitsgeister | |
| In der Kölner Akademie der Künste ist eine Ausstellung zu den | |
| Gespensterprotesten an der Ruhr zu sehen. Mit dabei ist Liedermacherin | |
| Fasia Jansen. | |
| Entschädigung für Holocaustüberlebende: Weil die Züge ihn nie losließen | |
| Der Amsterdamer Salo Muller erreichte, dass der niederländische | |
| Eisenbahnkonzern Deportationsopfer entschädigt. Nun wendet er sich an die | |
| Deutsche Bahn. | |
| Konzeptausstellung zu Emil Nolde: Weiß wie Merkels Wände | |
| Die Draiflessen Collection in Mettingen zeigt eine kritische Ausstellung zu | |
| dem Expressionisten. Konzipiert hat sie der Künstler Mischa Kuball. | |
| Afrofuturismus-Schau in Dortmund: Der Sound des schwarzen Atlantis | |
| Die Ausstellung „Afro-Tech And the Future of Re-Invention“ in Dortmund | |
| fusioniert Teile der Popkultur mit Sklavereigeschichte. |