Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Regierungskritiker in Polen: Besuch vom Geheimdienst
> Der bekannte Anwalt Roman Giertych wird festgenommen. Der offizielle
> Vorwurf: Unterschlagung und Geldwäsche. Einige vermuten politische
> Motive.
Bild: Roman Giertych, hier in einer älteren Aufnahme in Warschau
Warschau taz | Die Nachricht schlug in Polen ein wie eine Bombe: Roman
Giertych, einer der bekanntesten Anwälte des Landes, wurde am Donnerstag
festgenommen. Der Geheimdienst, konkret das Zentrale Antikorruptionsbüro,
durchsuchte seine Kanzlei und auch sein Haus in Józefów bei Warschau.
Zahlreiche Akten seien beschlagnahmt worden, hieß es. Im Bad wurde Giertych
ohnmächtig.
Fassungslose Fernsehzuschauer sahen in den Abendnachrichten, wie eine
Ambulanz den bewusstlosen Anwalt in ein Krankenhaus brachte. Giertych hätte
am Freitag in einem hochpolitischen Korruptionsprozess den Privatbanker
Leszek Czarnecki verteidigen sollen. Zuvor war schon durchgesickert, dass
die Staatsanwaltschaft in diesem Verfahren „untergehen“ würde, da die
Beweise für die angebliche Schuld Czarneckis nicht ausreichten.
Angeordnet hatte die Festnahme Giertychs der Staatsanwalt Marcin
Jędruszczak in Posen (Poznan), dessen Ermittlungen gegen Giertych
unmittelbar von der Landes-Staatsanwaltschaft in Warschau beaufsichtigt
werden, also von Zbigniew Ziobro, dem Generalstaatsanwalt und
Justizminister von der [1][regierenden Recht und Gerechtigkeit (PiS)].
Dass Giertych ausgerechnet im Bad ohnmächtig wurde, lässt bei vielen ein
Déjà-vu-Erlebnis hochkommen: Vor Jahren endete die Festnahme der beliebten
linken Politikerin Barbara Blida in Katowice mit ihrem Tod im Badezimmer.
Angeordnet hatte die medial inszenierte Verhaftung Zbigniew Ziobro.
## Beweisstücke verschwunden
In den Ermittlungen zu ihrem Tod verschwanden dann seltsamerweise wichtige
Beweisstücke, so dass bis heute nicht klar ist, wie es zum Tod Blidas im
Badezimmer kam und ob sie sich wirklich selbst erschossen hatte, noch dazu
in Anwesenheit einer Polizistin. Der Vorwurf schwerer Korruption ihr
gegenüber erwies sich Jahre später als falsch. Blida war unschuldig.
Die Staatsanwaltschaft in Posen hat insgesamt 48 Stunden Zeit, um die
Festnahme Giertychs so zu begründen, dass sie auch vor Gericht standhält.
Angeblich soll ihm Unterschlagung von umgerechnet über 20 Millionen Euro
und Geldwäsche in den Jahren 2010 bis 2014 vorgeworfen werden.
Ex-Präsident Aleksander Kwasniewski, der ebenfalls seit Jahren mit
Geheimdienst und Staatsanwaltschaft der nationalpopulistischen
PiS-Regierung zu tun hat, hält ein „politisches Motiv“ – einen Tag vor
einem für die PiS sehr wichtigen Prozess mit Anwalt Giertych als
Verteidiger des Privatbankiers – für wahrscheinlicher.
Noch am Donnerstagabend gab er dem Privatsender TVN24 ein langes Interview.
Zudem lenke die mediale Inszenierung durch PiS-nahe Medien vom Versagen der
Regierung bei der Coronavirus-Bekämpfung ab. Die Menschen sollten die neuen
Rekordzahlen in Höhe von über 8.000 Neuinfizierten, die steigenden
Todeszahlen und das Fehlen von Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern nicht
mit der PiS-Regierung in Verbindung bringen, sondern sich über den
angeblichen Betrüger Giertych aufregen.
## Skandalöse Äußerungen
Andere Weggefährten Giertychs erinnerten an den politische Werdegang des
durchaus umstrittenen ehemaligen Bildungsministers. Zu Beginn der 2000er
Jahre war Giertych noch ein nationalistischer Politiker und geriet immer
wieder mit skandalösen rechtsradikalen Äußerungen in die Schlagzeilen. Als
Vorsitzender der nationalistischen Liga der polnischen Familien (LPR) war
er 2005 bis 2007 in einer Regierungskoalition mit der PiS.
Nach dem Scheitern dieser Koalition und dem seltsamen Selbstmord von
Andrzej Lepper, der die linksradikale Bauern-Verteidigung – „Samoobrona“ …
in der Koalition anführte und dem die PiS Korruption vorwerfen wollte,
stieg Giertych aus der Politik aus. Er distanzierte sich im Lauf der Jahre
immer stärker von den nationalistischen Slogans und auch von der Partei,
dessen Chef er jahrelang gewesen war.
Als überaus erfolgreicher Anwalt zog er bedeutende Mandanten an. Unter
ihnen sind beispielsweise Polens Ex-Außenminister Radosław Sikorski und
dessen Frau, die Publizistin Anne Applebaum, die sich immer wieder gegen
Verleumdungen und antisemitische Beleidigungen wehren müssen.
Auch [2][Donald Tusk], der liberal-konservative Ex-Premier Polens und bis
vor kurzem auch EU-Ratspräsident, gehört zu Giertychs Mandanten. Oder der
Österreicher Gerald Birgfellner, der dem PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński
Betrug und Korruption vorwirft. Doch Polens Staatsanwaltschaft, der ein
PiS-Politiker vorsteht, erhob bislang keine Anklage gegen den PiS-Chef.
Alle diese Akten aber befanden sich in der Kanzlei von Giertych.
16 Oct 2020
## LINKS
[1] /Praesidentenwahl-in-Polen/!5700442
[2] /Anhoerung-von-Donald-Tusk-in-Warschau/!5398752
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
Polen
PiS
Donald Tusk
Polen
Schwerpunkt G20 in Hamburg
Andrzej Duda
Europäische Kommission
Polen
Kielce
## ARTIKEL ZUM THEMA
Donald Tusk kehrt zurück nach Polen: Das große Comeback
Der Ex-EU-Ratspräsident will wieder in der Landespolitik mitmischen. Mit
seiner Wahl zum Oppositionsführer stiehlt er der rechten PiS die Show.
Prozess gegen Anarchist*innen in Hamburg: Haftstrafen für einen Spickzettel
Die „Drei von der Parkbank“ sind wegen der Verabredung zu Brandanschlägen
am Jahrestag des G20-Gipfels zu Freiheitsstrafen verurteilt worden.
Präsidentenwahl in Polen: Die PiS ist angezählt
Fast die Hälfte der polnischen Wähler*innen haben klar gemacht, was sie von
Duda und seiner Partei PiS hält: nichts. Das ist eine gute Nachricht.
Justizreform in Polen: EU interveniert erneut
Die EU-Kommission leitet wegen einer umstrittenen Justizreform ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau ein. Das ist nicht das erste
Mal.
Polen unterliegt vor dem EuGH: Angriff auf den Rechtsstaat
Das höchste Gericht der EU schiebt dem Umbau von Polens Rechtsstaat einen
Riegel vor. Doch Warschau könnte sich weiter stur stellen.
Parlamentswahl in Polen: Das Erfolgsrezept der PiS
Die Nationalpopulisten werden wahrscheinlich wieder stärkste Kraft in
Polen. Auch in Kielce – einer Stadt in den abgehängten Gebieten an der
Ostgrenze.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.