# taz.de -- Berlins Linksparteichefin zu Lockdown: „Wir müssen nicht alles m… | |
> Katina Schubert hält einen erneuten Lockdown für einen Irrweg. Sie | |
> plädiert für „evidenzbasierte Maßnahmen“ und will Kulturangebote offen | |
> lassen. | |
Bild: „Wir müssen sehr vorsichtig mit pauschalen Maßnahmen sein“, sagt Ka… | |
taz: Frau Schubert, wir stehen vor einem erneuten Lockdown in Deutschland | |
und Berlin. Ist das auch das Eingeständnis, dass die Politik versagt hat? | |
Schließlich hieß es immer, ein Lockdown müsse auf jeden Fall vermieden | |
werden … | |
Katina Schubert: Von einem Versagen kann man nicht sprechen. Aber es | |
stimmt: Die Situation ist schwierig, weil die Infektionszahlen sehr stark | |
steigen. Wir müssen jetzt über Gegenmaßnahmen diskutieren, die | |
evidenzbasiert sind – bei denen wir also davon ausgehen können, dass sie | |
geeignet sind, die Infektionszahlen stark und nachhaltig zu senken. | |
Das ist etwas völlig anderes als die [1][Vorlage, die am Mittwoch von den | |
Ministerpräsidenten] und der Kanzlerin diskutiert wurde: Danach sollen | |
nahezu alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen werden, außer | |
Geschäften, Schulen und Kitas. Da gehen Sie nicht mit, es ist Ihnen zu | |
rabiat? | |
Ja, das ist problematisch. Es würde bedeuten, dass die Menschen zwar | |
arbeiten gehen sollen, aber ihre Freizeit zu Hause verbringen müssen. Für | |
ein Pärchen in einer Fünfzimmerwohnung mag das kein Problem sein; für | |
Menschen in engen Wohnverhältnissen ist es aber schwierig. Und wir wissen, | |
dass sehr viele Infektionen in privaten Haushalten passieren. Für mich ist | |
völlig offen, ob eine Kontaktbeschränkung, wie sie jetzt geplant wird, die | |
Infektionszahlen senken kann. | |
Viele Virologen argumentieren, dass man die privaten Kontakte reduzieren | |
müsse. | |
Private Kontakte kann man auch beschränken, ohne deswegen an die Wohnung | |
gefesselt zu sein. Man kann trotzdem zu Veranstaltungen gehen an Orten, an | |
denen das Hygienekonzept stimmt, die Abstandsregeln beachtet werden, wo es | |
ein Wegeleitsystem gibt. Diese Orte sind wahrscheinlich sogar sicherer als | |
eine Zweizimmerwohnung für eine fünfköpfige Familie. | |
Sie wollen also kulturelle Angebote wie Theater, Ausstellungen und | |
Konzerthäuser offen lassen, unter den bekannten und offenbar erfolgreichen | |
Corona-Auflagen. | |
Es braucht diese Ausweichmöglichkeiten. Genauso wichtig ist es, die | |
Bevölkerung dafür zu gewinnen, weiter mitzumachen und sich an die Abstands- | |
und Hygieneregeln zu halten. | |
Auch für Bars und Kneipen gibt es Hygienekonzepte. Sollten sie ebenfalls | |
offen bleiben? | |
Es ist falsch, deren Öffnungszeiten und Angebote völlig runterzufahren. | |
Viele Betreiber haben massiv investiert in Lüftungssysteme, haben Pläne | |
entwickelt, wie ausreichend Abstand gewahrt werden kann. Wenn wir die jetzt | |
schließen, gehen sie pleite. Wir müssen sehr klug agieren, sonst kommt auf | |
uns eine massive Insolvenzwelle zu, die in Berlin, wo der | |
Dienstleistungsbereich für 85 Prozent der Arbeitsplätze sorgt, zu | |
erheblichen sozialen Verwerfungen führen wird. Also müssen wir sehr | |
vorsichtig mit solchen pauschalen Maßnahmen sein. | |
Sie wollen einen evidenzbasierten Lockdown? | |
Ich habe nicht von einem Lockdown gesprochen, sondern von evidenzbasierten | |
Maßnahmen. | |
Das heißt zum Beispiel konkret: Die Sperrstunde ist Quatsch? | |
Es ist zumindest nicht bewiesen, dass sie nutzt. Die Zahlen sind nicht | |
rückläufig. Wir hatten im Sommer die Diskussionen um die Partys. Die | |
Jugendlichen wurden diffamiert als Infektionstreiber. Jetzt finden die | |
Partys nicht mehr statt, und die Infektionszahlen steigen dennoch. Deswegen | |
sage ich: Zentral ist, dass wir die ganze Bevölkerung dazu bewegen, bei der | |
Bekämpfung der Pandemie mitzumachen. Abstand halten, Mund-Nasen-Schutz | |
tragen, lüften, die Corona-Warn-App nutzen und da auch mal reingucken und | |
erkennen: Corona ist eine reale Gefahr und nicht bloß etwas, was in der | |
Zeitung steht. Es macht Sinn, sich aufzuschreiben, wen man getroffen hat – | |
sodass, wenn die App Rot zeigt, man die Leute anrufen kann. Und zwar | |
unabhängig davon, wann das Gesundheitsamt es schafft, sich zu melden. | |
Sie sagen also: Sperrstundenpolitik, wie sie SPD-Gesundheitssenatorin Dilek | |
Kalayci zuletzt betrieben hat, trägt nicht dazu bei, dass die Leute ein | |
Coronatagebuch führen und mitziehen bei der Pandemiebekämpfung? | |
Das ist nicht das drängende Instrument, nein. Es braucht | |
Aufklärungskampagnen in vielen Sprachen, auch Influencer in den sozialen | |
Medien, auch um die jungen Leute zu erreichen. | |
Aber kann man überhaupt noch evidenzbasierte Maßnahmen treffen, wenn die | |
Gesundheitsämter bei der Kontaktnachverfolgung längst an ihre Grenzen | |
gestoßen sind? Muss man da nicht doch die Keule auspacken? | |
Noch mal: Die bisherigen Maßnahmen sind nicht der Gamechanger, sie brechen | |
die Welle nicht. Natürlich kann man sagen, ihr bleibt jetzt alle zu Hause. | |
Aber vermutlich ist das Virus schon so tief in der Gesellschaft, dass sich | |
die Menschen dann eben zu Hause anstecken. Deshalb ist es wichtig, dass die | |
Menschen wissen, wie sie damit umgehen, wenn sie infiziert sind. | |
Kann der Senat dem massiven Druck, der von den Ministerpräsidenten anderer | |
Länder ausgeübt wird, überhaupt widerstehen? Kann Berlin signifikante | |
Ausnahmen von den geplanten strengen Regelungen zulassen? | |
Berlin muss schauen, was für Berlin wichtig ist, genauso wie etwa Thüringen | |
sich das auch herausnimmt. Wir müssen nicht alles mitmachen. Natürlich muss | |
man alle dazu anhalten, Kontakte einzuschränken. Aber das ist auch nicht | |
überall möglich, etwa für Obdachlose auf der Straße. Sie können dort gar | |
nicht überleben, wenn sie sich vereinzeln. Wir müssen uns um vulnerable | |
Gruppen mehr kümmern – Wohnungslose, Menschen und Beschäftigte in | |
Pflegeheimen und Flüchtlingsunterkünften – und dafür sorgen, dass dort mehr | |
getestet wird. Und zwar ohne dass sich die Menschen dazu gedrängt fühlen. | |
Wir müssen die Quarantäneunterkünfte aufrechterhalten, damit positiv | |
Getestete dort ihre Krankheit wirklich auskurieren können. | |
Dies wäre der zweite Lockdown. Schon der erste hatte schwere soziale | |
Folgen. | |
Wir hatten eine Zunahme von Gewalt in Familien und Gewalt gegen Frauen. Wir | |
hatten Vereinsamung, etwa bei Singles, die allein lebten. Und auch Familien | |
mit Kindern, insbesondere Alleinerziehende, hatten massive Probleme, den | |
Alltag zu bewältigen, auch weil die Schulen und Kitas geschlossen waren. | |
Das dürfen wir nicht einfach so wiederholen, wenn wir eine Akzeptanz in der | |
Bevölkerung für unsere Maßnahmen erhalten wollen, die notwendig sind, um | |
die Kurve abzuflachen. | |
Schulen und Kitas müssen offen bleiben? | |
So lange, wie es geht. Wir brauchen da schlaue Konzepte und auch mehr | |
Personal. Unser Vorschlag: Wir sollten jetzt verstärkt Studierende | |
anwerben, die diese Zeit als Praxissemester anerkannt bekommen. So können | |
wir sicherstellen, dass die Gruppen in Schulen und Kitas als Einheit | |
bestehen bleiben und sich nicht vermischen. Nur so können Infektionswege | |
nachvollziehbar bleiben. | |
Sollte man in den Schulen nicht besser jetzt schon zum Mischbetrieb aus | |
Homeschooling und Präsenzunterricht zurückkehren? | |
Ich glaube, vorher steht die Frage der Personalverstärkung, der | |
Auseinanderdividierung von Gruppen, möglicherweise braucht man ein | |
rollierendes System. Aber nur noch die Hälfte der Zeit in der Schule heißt | |
doch auch: Die andere Hälfte müssen wieder die Eltern organisieren. Und das | |
heißt auch, dass die Kinder auf der Strecke bleiben, die von zu Hause nicht | |
so viel Unterstützung bekommen. Das wollen wir nicht. | |
Wie geht man in den nächsten Monaten mit Demonstrationen und politischen | |
Kundgebungen um? | |
Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist ein hohes demokratisches Gut, | |
und es kann nicht eingeschränkt werden. Ich glaube, das sollte eine der | |
Lehren aus der Lockdownzeit sein. | |
Also eine Maskenpflicht? | |
Maskenpflicht, Abstandspflicht, ja, aber keine Begrenzung der | |
Versammlungsfreiheit. | |
28 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
Bert Schulz | |
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