| # taz.de -- Die Wahrheit: Corona-Woodstock | |
| > Tagebuch einer Träumerin: In einer Berliner Einkaufsmeile ist trotz | |
| > Pandemie alles wie immer – bis auf die hippiesk wild tanzende ältere | |
| > Dame. | |
| Bild: Wirtschaftlich wichtig und deshalb erlaubt: Konsum in der Hamburger Innen… | |
| Ein gewöhnlicher Tag in einer Berliner Einkaufszone. Nach den neuesten | |
| Infektionszahlen in den Morgennachrichten erwartet man, von Corona | |
| befallene Zombies durch die Konsum-Arkaden taumeln zu sehen, aber es bietet | |
| sich das übliche Bild: Kleingeldschnorrer schütteln vor der Sparkasse | |
| Pappbecher, religiöse Spinner missionieren Nichtgläubige, und hinter | |
| Schlabbermasken verborgene Blouson-Rentner beobachten vorm Tchibo das | |
| Treiben – alles untermalt von den schmissigen Klängen eines Balkan-Trios, | |
| zu denen sich eine im schönsten Herbstorange gefärbte, hippiebunt gewandete | |
| Ü-Siebzigerin mit Janis-Joplin-Brille und verzücktem Lächeln die Seele aus | |
| dem Leib tanzt. Woodstock in der Wilmersdorfer. | |
| Nach meiner Rückkehr von einer Einkaufstour bei Karstadt befindet sich die | |
| Lady immer noch in rhythmischer Ekstase. Plötzlich rast mit ausgebreiteten | |
| Armen, Begeisterung im pausbackigen Gesicht, ein etwa achtjähriger Moppel | |
| auf mich zu. Hilfe, darf man die Umarmung eines Kindes abwehren? Was sagen | |
| die Regeln? Also die gerade gültigen, 11.28 Uhr, Berlin, Bezirk | |
| Charlottenburg? | |
| Zu früh gepanikt, es ist die Dancing Queen, die es ihm angetan hat. Mit | |
| seinem pummeligen Hintern wackelnd swingt er vor seiner strahlenden | |
| Auserwählten. Harold and Maude 2.0, ein Bild des Glücks. „Wenn der Musik | |
| hört, muss er tanzen, egal mit wem“, erklärt sein Vater grinsend und | |
| dokumentiert die Szene mit dem Handy, während Mama und die Schwestern sich | |
| schlapp lachen. Keine Berührungsängste, aber im perfektem Abstand grooven – | |
| Feierbiester der Stadt, schaut auf dieses Paar! | |
| Einen Tag später werde ich als Berlinbewohnerin kalt vom jeglicher | |
| Feindberührung ausschließenden Beherbergungsverbot erwischt und erhalte | |
| nach einer geheimen Solidaritätsaktion in der gerade verlassenen Wohnung | |
| großzügiger Mitmenschen nächtliches Asyl. Wie es zu der | |
| Guerilla-Unterbringung kommt, sei hier nicht weiter ausgeführt, aber ich | |
| versichere den Behörden und besorgten Denunzianten, dass alles nach den – | |
| zu dieser Zeit – geltenden Regeln zuging. | |
| Allerdings erzeugt die Nacht im Kosmos meiner unbekannten Gastgeber | |
| Flashbacks aus Zeiten, als man nicht so genau wusste, wie man da, wo man | |
| sich beim Aufwachen wiederfand, hingeraten war. Im Traum werde ich von | |
| Erinnerungen an versunkene Wohngemeinschaftstage heimgesucht: Leere | |
| Flaschen, volle Aschenbecher, traurige Ficus-Benjamini-Bäume und ein | |
| obskurer Typ mit Bart ziehen in einer langen Karawane durchs | |
| Unterbewusstsein, alles begleitet von Joan Baez’ klirrendem Vibrato, das | |
| sich in meinen Schädel bohrt wie eine Wurzelkanalentzündung in die | |
| Kieferknochen. „The Ni-i-ight they drove old Dixie down …“ | |
| Am nächsten Tag kippen die Beherbergungsverbote wie Dominosteine, ab jetzt | |
| wird wieder traumlos in Hotelzimmern übernachtet. Schade, ich hätte gern | |
| noch erfahren, wie das damals mit dem Typen weiterging. | |
| 22 Oct 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Pia Frankenberg | |
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