Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Pandemie in der Großstadt: Langmut benötigt
> Private Treffen gehen nicht mehr, aber Shoppen beim verkaufsoffenen
> Sonntag geht schon. Das ist einer der schlecht zu ertragenden
> Widersprüche.
Bild: Wirtschaftlich wichtig und deshalb erlaubt: Konsum in der Hamburger Innen…
Am Donnerstag kehre ich von meinem Stipendiumsaufenthalt nach Hamburg
zurück, und natürlich habe ich mich informiert, wie es in der Heimat so
steht. Ich lebe seit Wochen in einer Kleinstadt im Schwarzwald, in der seit
einiger Zeit eine Maskenpflicht in der Fußgängerpassage und auf dem
Marktplatz besteht.
Es kommt mir absurd vor, denn auf dem Marktplatz ist meistens überhaupt
niemand. Abstandhalten ist hier eine einfache, eine sehr einfache Sache.
Und dann denke ich schon mal an mein Hamburg, wo es mancherorts nicht
möglich ist, Abstand zu halten: um 17 Uhr im Bus, in der U-Bahn, in der
S-Bahn oder auf den Einkaufsstraßen am Samstagnachmittag.
Aber was soll der Senat tun? Die Bürgersteige in Ottensen kann er nicht
breiter machen, das Einkaufen nicht verbieten, mehr Busse und Bahnen kann
er anscheinend auch nicht einsetzen. Es können nicht mehr Menschen Auto
fahren, denn es sind schon zu viele unterwegs. Auch die Radwege sind voll.
Die Stadt ist zum Bersten gefüllt mit Verkehr jeder Art, die Stadt ist ein
wimmelnder Ameisenhaufen, die Abstände, die wir halten sollen, sind einfach
nicht da.
Das ist das System, das System Großstadt. Konzentration, Enge,
Gedrängtheit, Geschäftigkeit, Geschwindigkeit, Verkehr. Was kann man da
also tun, wenn all das, was die Großstadt ausmacht, gefährlich ist?
Sehr wenig anscheinend. Man kann die Menschen auffordern, sich nicht auch
noch zu besuchen, privat. Das hört sich ein wenig armselig an, und das ist
es auch. Aber was wäre der Zaubertrick, der die Gedrängtheit der Großstadt
in weitflächige Luftigkeit verwandelte, die dazu führte, dass Menschen
anderen nicht mehr zu nahe kämen? Ohne den Betrieb in der Stadt
einzustellen, natürlich? Ich weiß es nicht. Ich fürchte, außerhalb des
Lockdowns gibt es kaum was.
Und dann gibt es doch einen schönen Tag, in dem all dieser Wahnsinn des
städtischen Trubels, von Büro, Fabrik, Kindergarten, Schule und Supermarkt,
ruht. An dem die Stadt im Bett bleibt, ein wenig spazieren geht vielleicht,
sich ausruht. Keine Kolleginnen, keine Kunden, keine Chefin, keine volle
U-Bahn. Das ist der heilige Sonntag. Der schlechteste Wochentag für das
Virus, alle sieben Tage wieder.
Am letzten Sonntag wurde in Hamburg ein verkaufsoffener Sonntag nachgeholt.
Im April musste er wegen der Pandemie ausfallen. Ist man jetzt hinsichtlich
der Gefahr zu einer anderen Einschätzung gelangt? Haben sich die Umstände
verändert, verbessert?
Wenn ich mich mit meinen zwei Freundinnen aus zwei Haushalten nicht mehr im
Park treffen darf, darf ich dann mit ihnen im Alsterhaus einkaufen gehen?
Hummer essen im Hanseviertel? Ich glaube schon. Weil das Bereiche sind, in
denen etwas stattfindet, was man Geschäftsverkehr nennt.
Im Geschäftsverkehr darf ich mit etlichen, fremden oder bekannten, Menschen
gleichzeitig sein, im privaten eben nicht. Das sind die so schlecht zu
ertragenden Widersprüche. Ein Mensch darf sich nach Feierabend nicht mit
denen treffen, mit denen er den ganzen Tag zusammenarbeitet. Schüler*innen
dürfen Mitschüler*innen nicht nach der Schule treffen.
Wir müssen hinnehmen, dass es Probleme gibt, die sich schwer oder gar nicht
ändern lassen, andere, die schlecht oder gar nicht geregelt sind; Menschen,
die sich nicht so verhalten, wie wir es für richtig halten, Regelungen, die
uns falsch vorkommen. Von all dem fühlen wir uns angegriffen und gestresst.
Gleichzeitig aber wird viel von uns verlangt: Einsicht, Nachsicht, Geduld
und vor allem Verantwortungsbewusstsein. Das kommt zu dem hinzu, was der
Alltag uns ohnehin abverlangt, zu den privaten Problemen oder echten
Dramen. Wir können uns darüber austauschen und beschweren, über die
Absurditäten, die Ungerechtigkeiten, die Hilflosigkeit.
Vor allem aber brauchen wir, glaube ich, in nächster Zeit noch sehr viel
Langmut und vor allem große Arme für unsere Lieben.
28 Oct 2020
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
Fremd und befremdlich
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Großstädte
Hamburg
Schwerpunkt Coronavirus
Kolumne Die Wahrheit
## ARTIKEL ZUM THEMA
Corona und der Herbst: Was wirklich wärmt
Es wird kalt, viele unserer Liebsten werden wir jetzt nur noch draußen
treffen können. Was hilft gegen die Kälte?
Die Wahrheit: Corona-Woodstock
Tagebuch einer Träumerin: In einer Berliner Einkaufsmeile ist trotz
Pandemie alles wie immer – bis auf die hippiesk wild tanzende ältere Dame.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.