# taz.de -- Antisemitismus an Schulen: Stark gegen Stigma | |
> Die Coronakrise bedeutet für viele Jugendliche mehr Zeit vorm Computer. | |
> Auf Youtube grassieren antisemitische Erzählungen – wie wird aufgeklärt? | |
Bild: Besuche von Gedenkstätten wie dem Holocaust-Mahnmal in Berlin wecken Bew… | |
BERLIN taz | Auch so kann Aufklärung über Antisemitismus aussehen: Beim | |
[1][Mädchentreff der „Schilleria“ in Neukölln] geht es bunt her. Es duftet | |
nach Waffeln, es wird gebastelt und im hinteren Teil des Ladens ist eine | |
kleine Siebdruckwerkstatt aufgebaut. Hier können die Mädchen zwischen 10 | |
und 13 Jahren Motive auf T-Shirts oder Jutebeutel drucken. Die Sprüche dazu | |
haben sie an den vergangenen drei Samstagen in einem Workshop selbst | |
erarbeitet: „Sag Nein zu Rassismus“, „Alle sind anders, alle sind gleich�… | |
„Leben lassen – lieben lassen“. | |
Arnon Hampe und Berivan Köroğlu von der Praxisstelle „ju:an“ der Amadeu | |
Antonio Stiftung haben den Workshop geleitet. Ihr Ziel ist es, Kinder und | |
Jugendliche alltagsnah und spielerisch für Themen wie Rassismus und | |
Antisemitismus zu sensibilisieren und handlungsstark zu machen. Denn viele | |
der Teilnehmerinnen sind selbst von Diskriminierung betroffen. | |
Ihre Arbeit sei besonders in Krisenzeiten wichtig, sagt Hampe: „Viele | |
Jugendliche saßen während des Lockdowns wochenlang zu Hause und waren im | |
Netz unterwegs. Dort haben sie natürlich auch alles Mögliche aufgesogen, | |
was da so kursiert und zum Teil gezielt eingesetzt wird, um Leute zu | |
manipulieren.“ Besonders oft handle es sich dabei um [2][antisemitische | |
Verschwörungserzählungen,] wie sie etwa im Deutschrap oder auf | |
Youtube-Channels schon länger bekannt sind. | |
„Antisemitismus ist ein tief in der Gesellschaft verankertes Phänomen, das | |
sich immer neue Ausdrucks- und Erscheinungsformen sucht“, so Hampe. Häufig | |
werde Israel als „eine Art Chiffre für das Böse“ dargestellt, was emotion… | |
stark aufgeladen sei. Für Kinder und Jugendliche sei das Thema daher auch | |
ohne Hintergrundwissen greifbar. | |
Der Antisemitismus grassiert in Deutschland: 2019 erreichte die | |
judenfeindliche Kriminalität laut Polizeistatistik mit mehr als 2.000 | |
Straftaten den höchsten Stand seit fast zwei Jahrzehnten, was einer Zunahme | |
von 13 Prozent gegenüber 2018 entspricht. Nur ein Jahr nach dem | |
[3][antisemitisch motivierten Anschlag auf eine Synagoge in Halle] griff | |
jüngst ein Mann in Tarnkleidung einen jüdischen Studenten vor einer | |
Hamburger Synagoge mit einem Klappspaten an und verletzte diesen dabei | |
schwer. | |
## „Du Jude“ ist längst gängiges Schimpfwort | |
Auch vor den Klassenzimmern macht der Hass nicht halt: Immer wieder werden | |
bundesweit neue Fälle bekannt, in denen Schüler*innen oder Lehrkräfte sich | |
offen antisemitisch äußern oder sogar handgreiflich werden. „Du Jude“ ist | |
längst ein gängiges Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen geworden. | |
Zu diesem Schluss kommt auch eine aktuelle, umfangreiche Studie der | |
Kulturwissenschaftlerin Julia Bernstein mit dem Titel [4][„Antisemitismus | |
an Schulen in Deutschland“]. Zusammen mit Kolleg*innen führte Bernstein in | |
siebzehn Monaten mehr als 250 Interviews mit jüdischen und nicht-jüdischen | |
Schüler*innen, deren Eltern, Lehrpersonal, Sozialarbeiter*innen und | |
diversen Expert*innen. | |
Die Publikation liefert erschreckende Befunde und Beispiele, wie sich | |
Antisemitismus bundesweit und durch sämtliche Schulformen hinweg äußert. | |
Laut Bernstein ist Antisemitismus an Schulen als Thema in den Medien seit | |
2017 präsent. Damals wurde ein jüdischer Schüler in Berlin angegriffen und | |
musste daraufhin seine Gemeinschaftsschule verlassen. | |
In den folgenden Monaten und Jahren sei verstärkt über Hass gegen jüdische | |
Schüler*innen berichtet worden, stellt Bernstein fest. So sei etwa an | |
einer Oberschule ein jüdischer Schüler nach einer Diskussion über den | |
Nahostkonflikt bedrängt, beleidigt und bedroht worden. „Hitler war ein | |
guter Mann, denn er hat die Juden getötet“, wurde ihm von einer | |
Mitschülerin entgegengebracht. Die allumfassende „Stigmatisierung jüdischer | |
Identität“ vergifte das Klima an den Schulen, so die | |
Kulturwissenschaftlerin. | |
Viele Lehrer*innen würden judenfeindliche Äußerungen entweder übersehen, | |
bewusst bagatellisieren oder es fehle ihnen an Kompetenz, richtig darauf zu | |
reagieren. Die heutzutage besonders häufig auftretende Variante eines | |
israelbezogenen Antisemitismus werde zudem oft erst gar nicht als solcher | |
erkannt – oder als legitime Kritik am Staat Israel abgetan, so Bernstein. | |
## Computerspiel gegen rechte Strategien | |
Doch wie kann Schulen im Umgang mit Antisemitismus geholfen werden? Fragt | |
man die Kultusministerien der einzelnen Bundesländer, so wird deutlich, | |
dass zwar ein Bewusstsein für das Problem existiert, die Maßnahmen sich | |
jedoch zum Teil deutlich unterscheiden. Manche der Angebote richten sich | |
dabei an ganze Schulklassen, etwa thematische Workshops, | |
Zeitzeug*innen-Gespräche oder der gemeinsame Besuch von Gedenkstätten. | |
Bundesweit tätig ist auch das Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit | |
Courage“, bei dem sich Schüler*innen und Lehrkräfte gemeinsam gegen | |
Diskriminierung einsetzen. Und das bayerische Kultusministerium plant für | |
das Schuljahr 2020/21 sogar ein interaktives Computerspiel, bei dem es laut | |
dem Pressereferat die Aufgabe der Spieler*innen sein werde, | |
„Anwerbestrategien der,Neuen Rechten' zu erkennen und auf Antisemitismus | |
und Rassismus im Netz zu reagieren“. | |
Andere Initiativen setzen auf die Sensibilisierung von Lehrkräften. Dafür | |
kooperieren die Ministerien mit verschiedenen Akteuren und Netzwerken wie | |
der International School for Holocaust Studies Yad Vashem in Jerusalem | |
oder lokalen jüdischen Einrichtungen. Ein dritter Ansatz im Kampf gegen | |
Antisemitismus an Schulen betrifft die Lehre selbst: So wurden etwa in | |
Sachsen zum Schuljahr 2019/20 alle Lehrpläne der allgemeinbildenden Schulen | |
dahingehend überarbeitet, wie das sächsische Pressereferat mitteilte. | |
Und in vielen Bundesländern gibt es inzwischen Handreichungen mit | |
Fallbeispielen, die Lehrer*innen helfen sollen, Antisemitismus bei ihren | |
Schüler*innen richtig zu deuten und auch entsprechend zu handeln. Zwar | |
existiert in einigen Ländern wie Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen und | |
Berlin inzwischen eine Meldepflicht für antisemitische Vorfälle an Schulen | |
– ob und was gemeldet wird, liegt jedoch weiterhin im Ermessen der | |
jeweiligen Lehrkraft vor Ort. | |
## Hauptkriterium: Wo es keine Vorfälle gab | |
„Das Hauptkriterium jüdischer Eltern für die weiterführende Schule ist | |
nicht, ob es dort einen Schwerpunkt auf Sport oder Musik gibt, sondern: Wo | |
gab es keine antisemitischen Vorfälle“, sagt Sophie Brüss, Referentin der | |
Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit – Beratung bei Rassismus und | |
Antisemitismus (kurz: SABRA) in Düsseldorf. Der Gesamtbevölkerung müsse | |
dafür ein Gefühl vermittelt werden, denn: „Es ist ein Riesenproblem für | |
uns.“ | |
SABRA berät und unterstützt das Schulministerium Nordrhein-Westfalen seit | |
2019 im Kampf gegen Antisemitismus. Inzwischen mache der Bereich Schule ein | |
Viertel der Fälle in der Beratungsstelle aus. Zu ihnen kämen hauptsächlich | |
diejenigen Menschen, die sich von ihrer Schule nicht hinreichend vertreten | |
fühlen: „Viele Schulleiter*innen ignorieren das Problem, versuchen | |
Vorfälle unter den Teppich zu kehren, weil sie natürlich den Ruf der Schule | |
nicht beschädigen wollen.“ | |
Häufig fände gar eine Täter-Opfer-Umkehr statt. „Der Antisemitismusvorwurf | |
wiegt dann schlimmer als der Antisemitismus selbst“, so Brüss. Nur in | |
wenigen Fällen gelinge es, dass der Streit beigelegt werden und der*die | |
betroffene Schüler*in die Schule weiterhin besuchen könne – die Täter*innen | |
hingegen blieben. | |
Es werde zwar schon viel in Sachen Prävention unternommen, sagt Brüss. Dass | |
Täter*innen gegebenenfalls auch strafrechtlich verfolgt werden, würde | |
hingegen oft vernachlässigt. Von der Politik wünscht sie sich außerdem | |
langfristige finanzielle Ressourcen anstelle befristeter Projekte, sowie | |
eine stärkere Zusammenarbeit mit jüdischen Akteuren. Denn SABRA sei eine | |
von gerade einmal zwei Beratungsstellen für antisemitische Vorfälle | |
bundesweit, die in jüdischer Trägerschaft sind. Brüss: „Solange jüdische | |
Institutionen nicht ernst genommen werden, wird es auch keinen wirklich | |
guten Kampf gegen Antisemitismus geben können.“ | |
20 Oct 2020 | |
## LINKS | |
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[4] /Antisemitismus-an-Schulen-in-Deutschland/!5682412 | |
## AUTOREN | |
Meret Eikenroth | |
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