# taz.de -- Maßnahmen gegen Corona: Zunehmend diffus | |
> Deutschlandweit steigt die Zahl der Coronaneuinfektionen rasant. Bei | |
> welchen Anlässen stecken sich die meisten Menschen an? Ein Stimmungsbild. | |
Bild: Sperrstunde in Berlin. Erst eingeführt, dann wieder gekippt | |
Unzufrieden, ja fast resigniert zeigte sich Angela Merkel am späten | |
Mittwochabend, als sie nach der Mammutsitzung mit den 16 | |
Ministerpräsident*innen vor die Presse trat. Zwar hatten sich Bund und | |
Länder angesichts weiter rasant steigender Infektionszahlen – am Freitag | |
wurde mit mehr als 7.300 Neuinfektionen ein neuer Höchststand erreicht – | |
auf neue Maßnahmen geeinigt. Dennoch äußerte die Kanzlerin große Zweifel, | |
ob das ausreiche. | |
„Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns | |
abzuwenden“, soll sie ihren Länderkolleg*innen gesagt haben. Ihre Botschaft | |
war klar: Spätestens jetzt sollten alle begriffen haben, dass die Pandemie | |
mit voller Wucht zurück ist. Und uns ein langer dunkler Herbst bevorsteht. | |
Helfen die beschlossenen Maßnahmen, die zweite Pandemiewelle zu brechen? | |
Das ist die große Frage. Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) lassen | |
zumindest eine kleine Tendenz erkennen. Vor einigen Wochen veröffentlichte | |
das RKI einen Bericht, aus dem hervorgeht, bei welchen Gelegenheiten sich | |
die meisten Menschen mit dem Virus infiziert haben. Von Beginn der Pandemie | |
bis Mitte August – also noch vor Beginn der aktuellen zweiten Welle – hat | |
das Institut zusammengestellt, wo Corona-Ausbrüche am häufigsten passiert | |
sind. | |
Dabei muss man einschränken, dass sich nur 27 Prozent aller übermittelten | |
Fälle sich wirklich zurückverfolgen ließen. Das RKI schreibt deshalb | |
selbst, dass die Zahlen „mit Zurückhaltung zu interpretieren“ seien. | |
Gleichwohl lassen sich leichte Tendenzen erkennen: Fast zwei Drittel der | |
untersuchtenAusbrüche führt das RKI auf „Wohnstätten“ zurück − wovon … | |
Großteil private Haushalte sind. Masseninfektionen gab es vor allem in | |
Alten- und Pflegeheimen. | |
Auch im medizinischen Bereich wie in Krankenhäusern oder am Arbeitsplatz | |
sind viele Ansteckungen dokumentiert. Auffallend wenige Infektionen | |
passierten in Bus und Bahn: Von rund 7.800 aufgelisteten Ausbrüchen waren | |
lediglich 19 auf Verkehrsmittel zurückführen. Zwar kommen Bars und Kneipen | |
in der RKI-Studie nicht vor, doch zumindest in Restaurants und Imbissen | |
sind nur sehr wenige Ausbrüche vermerkt. | |
Bei den Sorgen der Kanzlerin mag auch mitgeschwungen haben, dass Regeln das | |
eine, deren Akzeptanz durch die Bevölkerung aber etwas völlig anderes sind. | |
Wenn Abstands- und Maskenregeln weniger stark beherzigt werden, helfen die | |
besten Maßnahmen wenig. Und das Infektionsgeschehen wird zunehmend | |
diffuser. | |
Menschen stecken sich inzwischen allerorten an, was es auch für | |
Gesundheitsämter immer schwieriger macht, Infektionsketten zu verfolgen. | |
Die taz am wochenende hat bei diversen Gesundheitsämtern in Deutschland | |
nachgefragt, welche Infektionsherde sie ausgemacht haben. Auf dem platten | |
Land und in der großen Stadt. | |
## Metropolregion Rhein-Ruhr – Wo sich viele Menschen ballen | |
Der erste Blick soll in den hierzulande größten Ballungsraum gehen: die | |
Metropolregion Rhein-Ruhr. Mit mehr als 10 Millionen Einwohner*innen lebt | |
jeder achte Mensch in Deutschland zwischen Dortmund im Osten, Duisburg im | |
Westen und Bonn im Süden. Pendeln zum Arbeitsplatz ist für viele Alltag – | |
und mit der Mobilität der Leute verbreitet sich auch das Virus: Auf der | |
Pandemie-Landkarte Deutschlands ist mittlerweile fast die gesamte Gegend | |
rot eingefärbt. Für NRW bedeutet das: Jede*r Dritte lebt im Risikogebiet. | |
Entsprechend unterschiedlich sind die Infektionswege: „Der Großteil | |
infiziert sich aktuell im sozialen Umfeld“, heißt es vage aus der | |
bevölkerungsreichsten Stadt Köln. „Wir haben einen Mix“, sagt Ulrike | |
Schmidt-Keßler, Sprecherin der Stadt Wuppertal und nennt als Hotspots der | |
vergangenen Wochen einen Gemüsegroßhandel und eine Wäscherei. Dazu eine | |
Garagenparty mit knapp 80 Jugendlichen, auf der danach fast jede*r Vierte | |
infiziert war – und Corona wurde in die Schulen getragen. | |
In Hamm sei dagegen eine große Hochzeit von Menschen mit türkischem | |
Migrationshintergrund Auslöser einer neuen Coronawelle gewesen, sagt | |
Sprecher Tom Herberg. Bei dem mehrtägigen Event hätten mehr als 100 Gäste | |
nicht nur im knapp 180.000 Menschen zählenden Hamm, sondern auch in den | |
Nachbarstädten Dortmund und Werl gefeiert. Über Wochen sei die Stadt | |
deshalb Deutschlands Virus-Hotspot Nummer eins gewesen. | |
In der Gastronomie gebe es dagegen nur „kleinere Infektionsausbrüche“, | |
heißt es nicht nur aus dem feierfreudigen Köln. In Kneipen und Restaurants | |
werde offenbar nicht nur besser gelüftet als auf privaten Partys, sagt | |
Hamms Sprecher Herberg – auch Plexiglasscheiben, größerer Abstand und | |
Desinfektionsmittel täten ihren Dienst. „Außerdem darf in der Gastronomie | |
nicht getanzt werden.“ Die von der CDU-geführten Landesregierung verordnete | |
Sperrstunde lehnen viele Kommunen deshalb ab. | |
## Landkreis Cloppenburg – Wo viele Schlachthöfe liegen | |
Deutlich beschaulicher geht es im Nordwesten Niedersachsens zu – zumindest | |
war das in Vorpandemiezeiten so. Bereits seit Mitte September zählt | |
Cloppenburg zu den Landkreisen mit den meisten täglichen Neuinfektionen in | |
Deutschland. Hier ist die Dichte an Schlachthöfen hoch – immer wieder kommt | |
es zu größeren Ausbrüchen. Zuletzt waren in einem Fleischbetrieb in der | |
Gemeinde Emstek insgesamt 63 Mitarbeiter*innen positiv auf das Virus | |
getestet worden. Begünstigt werden Ansteckungen auch durch die beengten | |
Wohnverhältnisse, in denen die Arbeiter*innen häufig leben. | |
Hinzu kommt, dass Cloppenburg mit seinen Nachbarlandkreisen wie Vechta und | |
Emsland inzwischen einen großflächigen Dauerhotspot bildet. Jüngst | |
registrierte das Cloppenburger Gesundheitsamt auch einzelne Cluster bei | |
Großfamilien und Freikirchen. | |
## Landkreis Regen – Wo die Grenze ganz nah ist | |
Auch der Landkreis Regen, mitten im Bayerischen Wald gelegen, ist derzeit | |
ein Corona-Hotspot. Allerdings lassen sich die vielen Neuinfektionen in dem | |
rund 77.000 Einwohner*innen zählenden Kreis klar eingrenzen. Verantwortlich | |
ist ein Ausbruch in einem Oberstufenjahrgang eines Gymnasiums, in dem über | |
20 Schüler*innen infiziert sind. | |
Unklar ist, ob die Ansteckung in der Schule oder bei einem privaten Treffen | |
geschah. „Das können wir nicht ins Detail zurückverfolgen“, sagt | |
Landkreis-Sprecher Heiko Langer. Fest steht nur, dass die Infizierten auch | |
Freunde und Familienmitglieder angesteckt haben. | |
Für die meisten Jahrgänge ist daher vorerst Heimunterricht angesagt. Regen | |
liegt direkt an der tschechischen Grenze, mit vielen | |
Berufspendler*innen. Die Infektionsrate in Tschechien zählt aktuell zu | |
den höchsten in Europa. Das habe aber in Niederbayern nach Angaben des | |
Landkreises bisher keine spürbaren Auswirkungen gehabt. Vorgesorgt haben | |
sie in Regen trotzdem – und auf einem Parkplatz eine mobile Teststation für | |
Grenzpendler*innen aufgebaut. | |
## Stadt Berlin – Wo gefeiert wird | |
Für viele Fragezeichen sorgen die hohen Fallzahlen in Berlin. Viele | |
Infektionen in den Hotspot-Bezirken könnten auf Besuche in Bars, Kneipen | |
und Restaurants zurückzuführen sein, heißt es aus den Gesundheitsämtern der | |
Hauptstadt – anders als in Köln also. Auch private Partys in Wohnungen oder | |
im Freien zählten hierzu. Restaurants und Bars im Bezirk Mitte hätten etwa | |
eine hohe Anziehungskraft, die zu erhöhten sozialen Kontakten führten. Dass | |
das Berliner Verwaltungsgericht am Freitag die vom Senat verhängte | |
Sperrstunde aufgehoben hat, dürfte das Problem weiter erhöhen. Im September | |
seien zudem viele Infektionen von großen Hochzeitsfeiern ausgegangen, heißt | |
es etwa aus Neukölln. | |
Junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren gelten als zentrale Gruppe vieler | |
Infektionen. Die hielten sich, so ist es aus Charlottenburg-Wilmersdorf zu | |
hören, nicht diszipliniert genug an Verhaltensempfehlungen. Dies sei auch | |
„kulturbedingt“ bei manchen „Communitys, die enger feiern“ der Fall, so… | |
Bezirksstadtrat. Integrationslots*innen sollen da helfen. Das Neuköllner | |
Gesundheitsamt kann diese Behauptung aus dem Berliner Westen allerdings | |
nicht bestätigen, da dazu verlässliche Daten fehlten. | |
Die Lage wird zudem immer ernster: Ein Gros der Infektionen sei gar nicht | |
mehr zurückzuverfolgen, so die einhellige Rückmeldung aller | |
Hotspot-Gesundheitsämter. Die besten schaffen gerade mal die Hälfte, viele | |
deutlich weniger. Alle betonen die Personalknappheit. Zudem würden viele | |
Infizierte nicht ausreichend mit dem Gesundheitsamt bei der | |
Kontaktnachverfolgung kooperieren. Und bei Micky Maus und Batman, die laut | |
Listen im Berliner Nachtleben unterwegs sind, geht keiner ans Telefon. | |
Ob und wie die Maßnahmen wirken, wird sich erst in den nächsten Tagen und | |
Wochen zeigen. Steigt die Zahl der Neuinfektionen weiter an, könnten noch | |
striktere Einschränkungen folgen. Im Beschluss von Bund und Ländern heißt | |
es: Komme der Anstieg der Infektionszahlen nicht „spätestens binnen 10 | |
Tagen zum Stillstand“, seien weitere „gezielte Beschränkungsschritte“ | |
nötig. | |
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, dass | |
sich nur rund zehn Prozent der Fälle nicht zurückverfolgen ließen. Das ist | |
falsch: Das RKI schreibt in der Studie, dass sogar 73 Prozent der | |
übermittelten Fälle keine Rückverfolgung zuließen. | |
16 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Kevin Čulina | |
Daniel Godeck | |
Andreas Wyputta | |
Nadine Conti | |
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