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# taz.de -- Flucht nach Großbritannien: Die Türsteher vom Ärmelkanal
> Zu Tausenden kommen Flüchtlinge in kleinen Booten aus Frankreich nach
> Großbritannien. An Englands Südküste machen jetzt rechte Aktivisten
> mobil.
Bild: Blick vom Felsen auf den Strand, wo ein verlassenes Flüchtlingsboot liegt
Dover taz | Von der Klippe über Dover, die einen weiten Blick über den
Ärmelkanal bietet, ist kurz vor 5 Uhr morgens nur tiefes Schwarz zu
erkennen. Am Horizont jenseits der Hafenbeleuchtung lässt kein einziges
Licht auch nur ein Schiff erahnen.
Rechtzeitig zur Morgendämmerung haben sich zwei dickbäuchige Männer hinter
den Schutzzaun auf dem Felsen mit direkter Sicht auf das Hafenbecken
postiert. Der eine trägt eine grüne Armeetarnhose und ein T-Shirt, der
andere einen Trainingsanzug. Mit Fernrohren und Teleskopkameras halten sie
nach Bewegung auf dem Wasser Ausschau, geleitet von Apps auf den
Smartphones, die alle Schiffsbewegungen im Ärmelkanal anzeigen.
Die beiden Mittfünfziger sind ehemalige Hafenarbeiter aus [1][Dover]. „Was
wir hier machen, ist Zeitvertreib“, beschreibt es der Dicke im
Trainingsanzug. Nach dem Tod seiner Mutter haben ihm sein Arzt geraten,
mehr an die frische Luft zu gehen, um wieder auf andere Gedanken zu kommen,
erzählt er und blickt auf den Sonnenaufgang über dem Meer.
Hoch über der Stadt hat er tatsächlich eine neue Obsession entdeckt. „Ich
verstehe ja, wenn Leute aus Syrien kommen, aber Kuweit und Iran? Da ist
doch gar kein Krieg“, weiß er. „Wieso müssen die zu uns kommen, wenn sie
durch Länder wie Frankreich reisen?“ Bevor er weiter loslegen kann, lenkt
sein Kumpel das Gespräch auf das Hupen frustrierter Lkw-Fahrer – auf der
großen Zufahrtsstraße nach Dover herrscht gerade Dauerstau wegen eines
Unfalls.
Wegen des Staus hat auch die Morgenschicht der Grenzschutzmarine ihren
Kleinbus weit entfernt geparkt, die Beamten legen den Rest des Weges zu Fuß
zurück, wie man von oben sehen kann. „Wie werden die bei dem Stau später
einen Bus durchbringen, um die Leute abzuholen, die sie finden?“, fragt
sich einer der Beobachter. Derweil verlässt das erste Fischerboot das
Hafenbecken. Eher eine Seltenheit in Dover, verraten die beiden.
Die drei kleineren Einsatzboote der „Border Force“ liegen noch auf Anker.
Doch laut App tuckert ein größeres Grenzschutzschiff weiter östlich. Und
gegen 7.30 Uhr ortet einer der beiden Männer auf seinem Smartphone auch ein
Suchflugzeug, das 50 Kilometer östlich bei Dungeness an der Südostspitze
von Kent rund fünf Kilometer vor der Küste entfernt Runden dreht. „Sie
haben Leute gefunden“, jauchzt er.
Es dauert tatsächlich nicht lange, bis eines der grauen Border-Force-Boote
aus dem Hafen fährt und Kurs nach Osten nimmt. „Die gehen jetzt auf die
Suche“, sind sich die beiden Männer sicher.
## Über 6.500 Bootsflüchtlinge seit Januar
[2][Über 6.500 Flüchtlinge] haben seit Januar die Fahrt über den Ärmelkanal
aus Frankreich nach Großbritannien geschafft. Die meisten stammen nach
offiziellen Angaben aus Ländern wie Jemen, Iran, Eritrea, Tschad,
Afghanistan, Sudan und Äthiopien. In Frankreich finden sie keine Hilfe, in
Großbritannien haben sie Familie oder Bekannte oder hoffen, sich dort
besser durchschlagen zu können. Der Ärmelkanal ist der bevorzugte Ausweg
aus den Dschungelcamps von Calais geworden. Gangs verdienen an
organisierten Schlauchbootüberfahrten. Es ist lebensgefährlich, aber für
die Menschen alternativlos.
Die beiden alten Engländer mit ihren Teleskopen auf dem Felsen von Dover
haben eine andere Perspektive. Sie stehen vor einem militärischen
Spähposten aus dem 19. Jahrhundert, der zuletzt im Zweiten Weltkrieg
benutzt wurde, als es darum ging, England vor der Nazi-Invasion zu
schützen, die täglich aus Frankreich erwartet wurde. Und so fühlen sie sich
auch heute wieder.
Bestärkt wird ihr Gefühl von den Livestreams verschiedener solcher Wächter,
die an der Küste von Kent Wache schieben und jeden Tag ihre neuesten
Aufnahmen von ankommenden Flüchtlingen ins Internet stellen. Sie zählen die
Namen auf: „‚Active Patriot‘, ‚Little Veteran‘, ‚Tyrant Finder UK�…
sagt einer der beiden plötzlich: „Deswegen kennen wir Sie auch schon. Sie
sind der deutsche Journalist! Wir sahen Sie gestern im blauen Jackett, als
Active Patriot von der Aufnahmestation da unten streamte.“
## Vor den Augen der antimigrantischen Aktivisten
Gestern – das war, als am Nachmittag eine ganze Familie in den Hafen von
Dover gebracht wurde, während der taz-Reporter sich gerade dort aufhielt.
Hinten im Boot der Border Force saß ein kleines Mädchen mit schwarzen
schulterlangen Haaren und erschöpftem Blick. Neben ihr saßen ein älterer
Junge, zwei kleinere Kinder sowie vermutlich die Mutter und der Vater im
braunen Jackett, den Arm schützend um die kleine Tochter gelegt. Insgesamt
waren es mindestens ein Dutzend Menschen.
Ein Grenzschützer, wegen Covid-19 gekleidet in einen weißen
Seuchenschutzanzug, wies mit hochgekrempelten Ärmeln den Weg aufs Land:
über zwei angedockte größere Boote und einen Landesteg. Weiter ging es zur
mobilen Aufnahmestation: ein paar Container und Zelte auf einem
Lkw-Parkplatz. Ein weißer Bus stand neben einem Krankenwagen, für alle
Fälle.
Die Aktivistengruppe, von der man also am nächsten Morgen erfährt, dass es
sich um „Active Patriot“ handelte, saß bis dahin noch auf den Gartenstühl…
der benachbarten Trucker-Kneipe. Sie trugen kurze Sommerhosen, T-Shirts,
auch ein Hund an einer Leine war dabei.
Ein schlanker junger Mann trug als Mund-Nasen-Schutz die rot-weiße
englische Fahne, er hatte ein Gestell mit zwei Smartphones in seiner
rechten Hand und lief aufgeregt um das Aufnahmezentrum herum. Ein anderer
junger Mann bestieg sogar einen Gitterzaun und filmte den Innenbereich. Das
Sicherheitspersonal reagierte nicht.
## „Border Force“ greift auf, Nigel Farage filmt
Zurück auf dem Felsen über Dover am nächsten Morgen. Inzwischen ist es
10.30 Uhr. Die beiden Alten auf der Klippe holen ihre Teleskopkamera aus
dem Rucksack. Ihr „Einsatz“ hat sich gelohnt: Das kleine Boot der Border
Force fährt gerade wieder in den Hafen ein, im Schlepptau ein kleines
weißes Schlauchboot. An Bord: eine Gruppe von Menschen, eingehüllt in rote
Decken. Viele scheinen Kinder zu sein.
Auch das kleine Fischerboot, das am frühen Morgen als erstes auf See
gefahren war, ist auf dem Rückweg. Auf dem Frontdeck filmen ein paar Leute
das Boot der Border Force.
Es ist nicht weit den Felsen hinunter bis zum Hafen. Ein paar
Spaziergänger*innen stehen herum und beobachten die Ankunft der
Flüchtlinge. „Ich habe großes Mitgefühl für diese Menschen“, sagt eine
ältere Frau. John Hayne, 79, stimmt ihr zu: „Wir müssen den Kindern
helfen“, insistiert er mehrmals. Neben der Aufnahmestation haben sich
derweil wieder die antimigrantischen Aktivist*innen gesammelt und streamen
live, bis zum Abend haben ihr Video 13.000 Menschen gesehen.
Im Cafégarten des Strandhotel „Best Western“ mit Blick über die Bucht von
Dover sitzt Indre Lechtimiakyte. Die Litauerin verließ vor vier Jahren ihre
Heimat, um sich in England mit der Hilfsorganisation Samphire für
Flüchtlinge einzusetzen. Sie beschreibt, wie die Asylsuchenden mit Hoffnung
ankommen und im Alptraum landen, so wie überall in Europa.
„Manche sitzen wegen bürokratischen Schwierigkeiten jahrelang im Limbo.
Wenn Menschen durchs Netz fallen, sind auf die Hilfe von Organisationen wie
wir angewiesen“, erzählt sie. Lechtimiakyte versteht nicht, wieso
Asylsuchende kein Arbeitsrecht haben und stattdessen der Staat Geld dafür
ausgibt, Menschen in unmenschlichen Verhältnissen zu halten.
Plötzlich gibt es einen kleinen Tumult im hinteren Gartenteil. Ein Mann mit
Baseballmütze sagt freundlich lächelnd „Good Bye!“, steigt über die
kniehohe Mauer auf die Straße und verschwindet in einem bereitstehenden
Landrover.
Es ist Nigel Farage, Großbritanniens bekanntester Rechtspopulist. Seit
Monaten ist [3][der Führer der Brexit Party] an der Küste von Kent
unterwegs, um die Bootsanlandungen zu dokumentieren und Alarm zu schlagen,
dass niemand etwas dagegen unternehme. Wie sich herausstellt, war Farage
just auf jenem kleinen Fischerboot, das am frühen Morgen den Hafen
verlassen hatte und fast zeitgleich mit dem der Border Force wieder
zurückkam.
Auf Twitter zeigt der Ex-Europaabgeordnete später die Leute, die an diesem
Morgen geborgen wurden. Er hat sie noch auf hoher See angetroffen. Während
sie Wasser aus ihrem lecken Schlauchboot schöpfen, lästert Nigel Farage vor
der Kamera über die Franzosen, die diese Fahrt nicht verhinderten, die
sogar den Menschen Rettungswesten ausgehändigt hätten. Hinter ihm winkt
derweil ein Junge vom Schlauchboot ahnungslos und freundlich in seine
Kamera.
Das Resultat solcher Filmchen liegt auf der Hand. Flüchtlingshelferin
Lechtimiakyte erzählt von Hassmails, Drohanrufen und Angriffen auf Twitter.
Anfang September kam es in Dover zu einer größeren Demonstration
Rechtsextremer. Vor einigen Wochen gingen Mitglieder der rechtsextremen
Gruppe „Britain First“ sogar durch Dovers Hotels und klopften an
Zimmertüren, um Flüchtlinge aufzuspüren.
## Behörden in Kent sind überlastet
Probleme bringen die Flüchtlinge tatsächlich, aber das liegt nicht an
ihnen. In Großbritannien ist für unbegleitete Minderjährige die jeweilige
Kreisbehörde zuständig – in diesem Fall also die Grafschaft Kent. Für
Massenankünfte aus dem Ausland hat sie nicht die Kapazitäten. Ein vor vier
Jahren geschaffenes nationales Transfersystem sollte eigentlich die
Verantwortung für diese Kinder auf das ganze Land verteilen, doch das
scheint nicht mehr zu funktionieren.
Im August befanden sich 600 Flüchtlingskinder in der Obhut Kents, 369 mehr,
als sie verpflichtet sind aufzunehmen. Jetzt sollen sie angeblich in ein
ehemaliges Armeelager. Aber Bridget Chapman vom „Kent Refugee Action
Network“ fragt sich, wer denn jetzt mit diesen Kindern arbeitet. „Angeblich
will das Innenministerium es tun, aber mit welchen Arbeitskräften, weiß der
Kuckuck, denn sie haben nicht die notwendigen Expert*innen.“
20 Sep 2020
## LINKS
[1] /Vor-der-Abstimmung-ueber-den-Brexit/!5289304/
[2] /Flucht-nach-Grossbritannien/!5701919/
[3] /Britischer-Wahlkampf-fuer-Europawahlen/!5592134/
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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