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# taz.de -- Aus Syrien nach Berlin: Eine kleine zweite Heimat
> Auf seinem langen Weg von Syrien nach Deutschland wurde Anas Albasha
> entführt, verhaftet und bestohlen. Nun lebt er mit Frau und Sohn in
> Berlin.
Bild: Der vier Monate alte Hisham trägt den Namen seines Onkels, der von einer…
Hisham ist vier Monate alt und trägt den Namen seines Onkels, der in Syrien
geblieben war, um in der medizinischen Notaufnahme eines Krankenhauses zu
arbeiten. Der Onkel wurde von einer Rakete getötet, abgefeuert von den
Truppen des Assad-Regimes. Doch Hisham weiß von all den Dingen nichts, er
liegt mit offenen, neugierigen Augen unter einem „Baby-Activity-Gym“, einem
Spielbogen, und hat keine Angst vor Fremden.
Seine Eltern, Anas Albasha und Hannah-Sophie Wahle, sind gerade in eine
lichtdurchflutete Neubauwohnung im Berliner Stadtteil Wedding gezogen, ein
Genossenschaftsbau, bezahlbar. Sie hatten Glück. Und sind froh, die winzige
Bude hinter sich gelassen zu haben, in der sie vorher gehaust hatten.
Bis hierher, bis zu diesen vielleicht 70 geschmackvoll eingerichteten
Quadratmetern, den zwei Balkonen, einer Ehe und einem Kind war es ein sehr
weiter Weg für Anas Albasha, 29 Jahre alt und in Aleppo geboren. Er hat
nicht nur einen Bruder verloren, auch sein jüngerer Bruder Firas wurde 2015
von einer russischen Fliegerbombe auf offener Straße zerfetzt.
Bereits zwei Jahre zuvor hatte Albasha beschlossen, Syrien zu verlassen,
nachdem er als Teilnehmer und Organisator von Studierendenprotesten durch
Sicherheitskräfte angeschossen worden war: „Da meine ganze Familie im
Widerstand aktiv war, haben wir uns zu diesem Zeitpunkt bereits im Norden
des Landes versteckt, in einem kleinen Dorf – aber irgendwann wurde klar,
dass es für mich keine Perspektive im Land gibt.“
Anas Albasha, ein schlanker, agil wirkender Mann, schwarzes Haar, schwarze
Augen, war erst 21 Jahre alt, als er alles hinter sich ließ, um sich eine
Perspektive zu erkämpfen. Über die Türkei flog er zunächst nach Jordanien,
versuchte von dort erfolglos ein Studentenvisum für Deutschland zu
bekommen. Nach zehn Monaten Wartezeit, Jobs in der Gastronomie und der
Textilindustrie kam die Absage, obwohl er bereits einen Studienplatz hatte
– zugleich drohte sein Pass abzulaufen, er musste zurück in die Türkei. Und
hatte gerade noch genug Geld beisammen, um einen anderen, nicht offiziellen
Versuch zu starten, nach Europa zu gelangen.
## Konkurrierende Schleppergruppen
Er flog von der Türkei aus nach Algerien, von dort aus ging es weiter durch
die Wüste, nach Libyen. „Zweieinhalb Monate hatte ich das Vergnügen, dort
zu sein“, sagt Albasha und lacht. Man kann nur erahnen, dass es vielleicht
helfen mag, eine solche Geschichte öfter zu erzählen, und manchmal auch,
darüber lachen zu können: „Zweimal wurde ich entführt von konkurrierenden
Schleppergruppen. Einmal wurden wir mit 150 Leuten in einer Wohnung
festgesetzt, fünf Tage lang, und für alle gab es ein Paket mit fünf Kilo
Nudeln. Wenn wir nach Essen gefragt haben, wurden wir geschlagen.“
Einmal wurden sie auch von einer Miliz verhaftet, die von der EU finanziert
worden war, um den Schleppern das Leben schwer zu machen – sie hätte sich
verhältnismäßig anständig den Flüchtenden gegenüber verhalten: „Als Gru…
waren wir damals zum ersten Mal in den europäischen Medien zu sehen, dort
hat man unsere Bilder gezeigt.“
Nach langen Tagen des Spielballseins, des Ausgeliefertseins, saß er
schließlich in einem Schlauchboot. Dieses Mal mit 215 Leuten auf einem 14
Meter langen Boot: „Der Motor machte irgendwann Probleme, aber ich war
einfach nur froh, Libyen hinter mir zu lassen“, erinnert sich Albasha, und
daran, dass sie von der italienischen Marine aufgelesen wurden: „Wir waren
hauptsächlich Syrer auf dem Boot, wir wurden registriert und durften
weiterreisen, mussten sogar, sonst drohten sie uns festzunehmen – die
Männer aus Kamerun, Somalia, Libyen durften hingegen nicht weiter.“
Anas Albasha nahm den Zug in Richtung Norden, „ich hatte ja noch alle
Papiere, bis mir dann in Verona auf dem Bahnsteig der Rucksack geklaut
wurde“. Die Katastrophe wurde nicht kleiner, doch ein Freund aus dem
libyschen Inferno war an seiner Seite, gemeinsam schafften sie es nach
München, von dort ging es weiter nach Berlin.
## „Ich fühlte mich nicht willkommen“
Lageso, Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales und Chiffre für
behördliches Versagen. „Dreißig bis fünfzig Leute waren in der Schlange, zu
dem Zeitpunkt war es noch nicht so schlimm. Ich besaß nun nur noch, was ich
am Leibe trug. Und wurde nach Eisenhüttenstadt geschickt.“ Mit diesem Ort
in Brandenburg verbindet er keine guten Erinnerungen, „dort war keine gute
Stimmung, ich fühlte mich nicht willkommen“, besser wurde es aber, als er
in die Universitätsstadt Frankfurt an der Oder verlegt wurde: „Mit Franka
und Thomas bin ich noch immer befreundet. In Frankfurt haben uns Studenten
im Wohnheim besucht, es entstanden erste Freundschaften.“
Albasha geht zum Herd, er muss die richtige Menge Kardamom für den Kaffee
hinzufügen. „Das musst du machen“, sagt seine Frau. Hannah-Sophie Wahle
arbeitet bei einer internationalen Organisation, er studiert wieder, an der
TU Berlin, Wirtschaftsingenieurswesen im sechsten Semester. „Ich musste
leider wieder ganz von vorne anfangen, weil mir die Dokumente aus Syrien
nicht ausgehändigt werden – ich könne sie mir ja selbst abholen, sagte man
mir...“
Nachdem sein Asylantrag nach neun Monaten angenommen worden war und er
erfolgreich Deutsch gelernt hatte, war er zunächst Sprachmittler für die
Sparkasse in Berlin. Mittlerweile arbeitet Albasha nebenberuflich dort, wo
er ohnehin später sein möchte: in einem Bauunternehmen, in der
Projektsteuerung. Will er irgendwann wieder zurück? „Ja, eines Tages würde
ich gerne zurück nach Syrien, um das Land wieder aufzubauen. Auch das
Familienhaus in Aleppo, das ist mein Traum. Aber nicht unter Assad, nicht
in einem Land, in dem über 100.000 Leute in Foltergefängnissen leben.“
Die Familie Albasha ist mittlerweile komplett zerrissen, die Eltern sind in
der Türkei, wollen wenigstens in der Nähe ihrer Heimat leben. Die Schwester
hatte sich 2015 nach dem Tod des jüngeren Bruders Firas auf den Weg nach
Deutschland gemacht, mit ihrem Mann und zwei kleinen Söhnen. Die Grenzen
waren zu diesem Zeitpunkt noch passierbar. Auch der älteste, überlebende
Bruder kam nach: „Der ist nun in Wuppertal, das Lageso hat ihn dorthin
geschickt.“ Wenigstens die Schwester lebt in Berlin, zu ihrer kleinen
Familie ist nun noch eine Tochter hinzugekommen – die Eltern hat er zuletzt
vor drei Jahren in der Türkei besuchen können, dazu braucht er ein Visum,
umgekehrt ist der Weg ganz versperrt.
## Sich gegenseitig Trost spenden
Kann Berlin ein Zuhause sein, eine Heimat? „Meine Heimat ist Syrien“, sagt
Anas Albasha mit großer Bestimmtheit, „ich habe das Land nicht freiwillig
verlassen, es ist ganz anders, wenn man gezwungen wird“. Er ergänzt: „Wenn
es in Deutschland schlechter läuft, müsste ich ja vielleicht auch woanders
hin fliehen.“ Andererseits ist da ja nun seine Frau, sein Kind, die Wohnung
mit der großen, deutschen Intarsien-Truhe, die sie mit in die Ehe gebracht
hat. „Ja, meine Wohnung ist meine kleine Heimat. Vielleicht wird Berlin ja
langsam zu meiner zweiten.“
Nein, er geht nicht in die Sonnenallee, die „arabische Straße“ im Stadtteil
Neukölln, wenn er Sehnsucht hat, und Ghee-Butter gibt es nun auch im neuen
arabischen Supermarkt um die Ecke. Aber der syrische Freundeskreis ist groß
und das Engagement ist geblieben: „Wir organisieren zum Beispiel Demos vor
der russischen und der syrischen Botschaft – aber die Lage wird ja gerade
nicht besser. Es geht auch darum, uns gegenseitig Trost zu spenden, nachdem
wir so lange und stark gehofft hatten.“
Den Traum zurückzukehren, haben weder Albasha noch seine Eltern aufgegeben.
Doch vorerst bleibt es bei einer langsamen Annäherung an das neue Zuhause,
auch wenn es ihm manchmal bei allem Glück schwer gemacht wird. Als er vor
Kurzem eine Geburtsurkunde für seinen Sohn Hisham beantragen wollte,
zweifelte der Beamte an der Existenz des Vaters: „Albasha? Ich weiß ja gar
nicht, ob Sie so heißen.“ Anas Albasha hat noch immer nur einen
Flüchtlingsausweis, mittlerweile aber sogar wieder eine Geburtsurkunde aus
Aleppo. „Behörden“, sagt er und verdreht die Augen. Manche Dinge sind eben
überall auf der Welt gleich.
9 Aug 2020
## AUTOREN
Martin Reichert
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