Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Geflüchtete in der Coronakrise: Gestrandet in Jordanien
> Nabila lebt in Amman, Shawkat wohnt im Lager. Sie kommen aus Syrien, sind
> mittellos, von Hilfe abhängig. Ihre Hoffnung: ein neues Leben im Westen.
Bild: Im Lager Zaatari. Seit Beginn der Pandemie sind die Verdienstmöglichkeit…
Amman taz | Nabila sitzt still auf dem schwarz gepolsterten Stuhl und hält
die Hände im Schoß gefaltet. Im Raum nebenan stricken zwölf Frauen
konzentriert, auf ihren Tischen stapeln sich bunte Wollknäuel und weiße
Teddybären. Im Flur reihen sich Seifenstücke, die nach Rosen und Veilchen
duften, neben blauen Glasflaschen, die mit arabischen Motiven verziert
sind. Das Büro gehört dem Unternehmen Egojasmine, das Kurse in
Kunsthandwerk für syrische Frauen in der jordanischen Hauptstadt Amman
anbietet. Hier hat Nabila, unter der Bedingung der Wahrung ihrer
Anonymität, einem Gespräch zugestimmt.
„In Syrien habe ich in der [1][Ost-Ghouta] gewohnt“, erzählt die
37-Jährige. „Schon bevor die Region von Baschar Assads Truppen belagert
wurde, beschossen sich die Regierungsarmee und die Rebellen gegenseitig,
willkürlich. Meine Familie geriet einmal zwischen die Fronten, ich hatte
Angst um meine Kinder. Ich liebte mein Dorf, wollte nicht weg. Aber als das
passierte, habe ich beschlossen zu gehen.“
In dem Vorort von Damaskus wütete der syrische Bürgerkrieg besonders
heftig. Vor 2011 war dies eine ländlich geprägte Region, die die syrische
Hauptstadt mit Obst und Gemüse versorgte. Als die Ost-Ghouta jedoch zur
Rebellenhochburg wurde, begannen die Kämpfe, die in eine fünfjährige
Belagerung mündeten. Mehrere tausend Menschen kamen ums Leben. Statt
Granatapfelbäumen ragen heute Trümmer in den Himmel.
In Amman ist die junge Frau in Sicherheit. Syrer bilden mit fast 665.000
Menschen die zweitgrößte Gruppe Geflüchteter in Jordanien nach den
Palästinensern und ihren in Jordanien geborenen Nachkommen.
## 360 Euro Verdienst – und 300 Euro Miete
Nabila trägt einen türkisfarbenen Pullover, weißen Schleier und eine
schlichte Brille. Sie redet ruhig und lächelt selten. „Durch Corona ist das
Leben viel schwieriger geworden. Die Kinder sind den ganzen Tag zu Hause,
und der Onlineunterricht war sehr schwer für sie. Wir hatten kein Geld für
Laptops und Internet, mussten Nachhilfestunden bezahlen. Die Schulden haben
sich aufgetürmt.“
Mitarbeiter der Hilfsorganisation [2][International Rescue Committee] (IRC)
in Jordanien bestätigen, dass die Teilnahme am Unterricht für viele Kinder
aus ärmeren Familien beendet war, als das Onlinelernen begann. Erst vor
zehn Tagen hat der Präsenzunterricht für einige Jahrgänge wieder begonnen.
Jahrelang hat Nabila mit ihrem Ehemann und vier Kindern in einem kleinen
Haus in al-Aschrafija gewohnt, einem Viertel mit steilen Straßen und dicht
aneinandergedrängten Gebäuden. Das Haus war heruntergekommen, dafür aber
günstig. „Dann gab es Streit mit dem Arbeitgeber meines Mannes, er hat
einen Teil seines Gehalts einbehalten.“ Am Ende musste die Familie
ausziehen, erzählt sie.
„Unsere jetzige Wohnung ist zwar viel größer und schöner, aber die Miete
ist fast doppelt so hoch“, fährt sie fort. Und seit Beginn der
Coronapandemie findet ihr Ehemann keinen Job mehr – so ist Nabila jetzt die
Einzige in der Familie, die etwas verdient. „300 Dinar im Monat“,
umgerechnet 360 Euro, erzählt sie. Die Miete beträgt fast 300 Euro, etwa 60
Euro bleiben also der sechsköpfigen Familie zum Leben übrig. Ohne die
Unterstützung von Hilfsorganisationen könnten sie kaum überleben.
Bedürftige Geflüchtete können Bargeldhilfe vom UN-Flüchtlingshilfswerk
([3][UNHCR]) bekommen. Im Schnitt seien dies etwa 150 Euro pro Monat für
eine vierköpfige Familie, sagt Lilly Carlisle, UNHCR-Sprecherin in
Jordanien. Seit Beginn der Pandemie habe die Organisation 52.000
zusätzliche Familien in Jordanien unterstützt. Aber das reiche nicht. „Wir
haben viele, die fragen, wieso sie keine Bargeldhilfe bekommen haben“, sagt
Carlisle. „Die Antwort ist traurigerweise: Wir wissen, dass mehr
Geflüchtete mittlerweile in Armut leben, aber wir haben nicht genug Geld.“
Dies betreffe auch die Gesundheitsausgaben. Geflüchtete haben zwar Zugang
zum nationalen Gesundheitswesen, so wie nichtversicherte Jordanier, und
können bei Bedarf UNHCR-Hilfe in Anspruch nehmen. Doch momentan könne die
Flüchtlingshilfe nur bei Notfällen finanziell aushelfen. „Nichtnotfälle
müssen warten“, sagt Carlisle. „Wir haben etwa 8.000 Menschen auf der
Warteliste.“ Nabila und ihre Familie bevorzugen mittlerweile, nicht zum
Arzt zu gehen, auch wenn sie krank sind. Die Kosten, erzählt sie, seien zu
hoch.
Nabila wünscht sich, mit einem Resettlement-Programm nach Europa oder
Kanada umgesiedelt zu werden. „Wie mein Bruder, der jetzt in Vancouver
lebt“, sagt sie. In Pandemiezeiten sind ihre Chancen allerdings schlecht –
nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe sind 2020 weltweit so wenige Menschen
umgesiedelt worden wie noch nie in den 17 Jahren zuvor. „Aber das wäre ein
Traum“, sagt die junge Frau und lächelt.
Nach einem Bericht des UNHCR und der Weltbank hat die Armut unter syrischen
Geflüchteten in Jordanien schon zu Beginn der Pandemie deutlich zugenommen.
Etwa 18 Prozent der syrischen Geflüchteten in den untersuchten Städten sind
demnach plötzlich verarmt. Mehr als 90 Prozent aller Interviewten in der
Studie gaben zu, Mahlzeiten oder Gesundheits- und Schulausgaben reduziert
zu haben.
Bereits vor der Coronakrise lebte die große Mehrheit der Geflüchteten unter
der Armutsgrenze. Viele waren von Gelegenheitsjobs abhängig, die mit der
Pandemie verschwunden sind. Zwar erhalten syrische Geflüchtete in Jordanien
in einigen Branchen Arbeitserlaubnisse, doch viele landen am Ende in
irregulären Putz- und Handarbeiterjobs. „Das setzt sie zusätzlichen Risiken
aus“, sagt Carlisle. Die Kündigungen von Wohnungen hätten seit Beginn der
Pandemie um 30 Prozent zugenommen.
## Im Flüchtlingslager: Leben im Wohnwagen
Etwas anders ist die Lage der Geflüchteten in den Camps. Seit acht Jahren
nennt Shawkat einen Wohnwagen sein Zuhause. Die zwölf Quadratmeter teilt er
sich mit seiner Ehefrau und drei Kindern. „Vorne habe ich aber einen
zusätzlichen Raum mit Plastikplanen und Blech aufgebaut: Er verhindert,
dass der Staub in den Caravan gelangt, und wir benutzen ihn als
Wohnzimmer“, erzählt der 25-Jährige. Shawkats Wohnanhänger liegt auf einer
der staubigen Straßen in [4][Zaatari], dem größten syrischen
Flüchtlingscamp weltweit.
Momentan arbeitet der junge Mann als Fotograf und Filmemacher im Camp. Sein
Geburtsort liegt nur rund 50 Kilometer jenseits der Grenze, in der
syrischen Stadt Daraa. In Zaatari leben etwa 78.000 Syrer, oft in Zelten
oder Caravans. Wenn die Sonne scheint, wird die rötliche Erde zu feinem
Staub, wenn es regnet, zu Matsch. Im Winter ist die Lage besonders
kompliziert. „Viele Caravans sind mittlerweile alt, sie brauchen
Instandhaltung. Bei Regen oder Überflutung dringt Wasser ein“, sagt
UNHCR-Sprecherin Carlisle.
In diesem Winter macht Corona das Leben noch schwerer. Knapp die Hälfte der
Erwachsenen waren bis zum März vergangenen Jahres im Besitz einer
Arbeitserlaubnis, die ihnen ermöglichte, auch außerhalb der Camps legal zu
arbeiten. Doch seit Beginn der Pandemie waren die Tore des
Flüchtlingslagers fast durchgängig geschlossen. „Der Verkehr nach und aus
dem Camp ist gestoppt worden, sodass die Menschen sich nicht mit Corona
infizieren“, erzählt Shawkat. Auch für Journalisten ist das Camp in der
Regel gesperrt. Shawkat berichtet von seiner Lage am Telefon. Erst seit
dieser Woche dürfen Geflüchtete mit einer Arbeitserlaubnis, Studenten und
einige Sonderfälle wieder heraus.
Dass die Geflüchteten nicht mehr außerhalb des Camps arbeiten durften, habe
sie besonders hart getroffen, bestätigt Carlisle. „Wir haben eine Zunahme
an Schulden und Anleihen festgestellt.“ Nur einige, wie Shawkat, arbeiteten
weiter in ehrenamtlichen Projekten und bekämen eine kleine
Aufwandsentschädigung oder betrieben eines der über 1.000 informellen
Geschäfte an der dortigen Einkaufsstraße, den „Champs Élysées“, wie sie…
den Bewohnern genannt wird.
Das Zaatari-Camp ist 2012 gebaut worden, als vorläufige Antwort auf den
Bürgerkrieg im benachbarten Syrien. Für viele Menschen ist diese Kleinstadt
der Geflüchteten zur zweiten Heimat geworden: Hier haben sie geheiratet,
Geschäfte eröffnet, Kinder bekommen. Ereignisse, die Shawkat früher gerne
in Bildern festgehalten hat – bevor die Pandemie all die sozialen
Traditionen wegfegte, die den Menschen halfen, in der Anonymität des Camps
eine Identität zu bewahren.
In seiner Heimatstadt Daraa habe er im Alter von 14 Jahren damit begonnen,
im Fotostudio des Vaters zu arbeiten, erzählt Shawkat. Das war 2009, zwei
Jahre bevor Schulkinder Parolen gegen das Regime von Baschar al-Assad an
eine Wand schmierten und damit landesweite Proteste und den Kampf des
Regimes gegen die eigene Bevölkerung initiierten. „Ich vermisse vieles: die
Straßen, an denen ich spazieren ging, meine Verwandten, meine Schule, meine
Freunde, das Haus, in dem ich geboren wurde“, sagt Shawkat.
Und doch weiß der junge Mann, dass er sich im Vergleich zu anderen
Flüchtlingen in einer privilegierten Lage befindet. Im Camp muss er sich
keine Sorgen um Miete oder Stromkosten machen und erhält Wintergeld fürs
Heizen. Gesundheitsdienste und Schulen befinden sich vor Ort.
Mitarbeiter des International Rescue Committee bestätigen, dass Geflüchtete
in den Städten jetzt mehr Probleme haben. Sie riskierten, ihr Zuhause zu
verlieren, wenn sie ihre Miete nicht bezahlen können. In den
Flüchtlingslagern seien die Menschen hingegen mit dem Nötigsten versorgt.
Shawkat aber hofft weiterhin, irgendwann aus dem Camp herauszukommen. „Ich
möchte in ein neues Land umziehen – und meine Ausbildung als Filmemacher
zu Ende bringen.“
21 Feb 2021
## LINKS
[1] /Stimmen-aus-Ost-Ghouta/!5496511
[2] https://de.rescue.org/wer-wir-sind
[3] https://www.unhcr.org/dach/de/ueber-uns
[4] /Syrische-Fluechtlinge-in-Jordanien/!5271647
## AUTOREN
Serena Bilanceri
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Flucht
Syrische Flüchtlinge
Jordanien
Jordanien
Flüchtlinge
Syrien-Intervention
Vertriebene
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jordaniens Ex-Kronprinz: Bruch im Königshaus
Hamsa bin Hussein erhebt schwere Vorwürfe gegen seinen Halbbruder König
Abdullah II. Er befinde sich wegen einer angeblichen Verschwörung im
Hausarrest.
Aus Syrien nach Berlin: Eine kleine zweite Heimat
Auf seinem langen Weg von Syrien nach Deutschland wurde Anas Albasha
entführt, verhaftet und bestohlen. Nun lebt er mit Frau und Sohn in Berlin.
UN-Hilfe für Syrien: Russland diktiert die Bedingungen
Hilfslieferungen für Flüchtlinge im Norden Syriens werden eingeschränkt.
Nur noch ein Grenzübergang darf dafür genutzt werden.
Jahresbericht UNHCR: Fast 80 Millionen auf der Flucht
2019 wurden an jedem Tag rund 25.000 Menschen auf der Welt vertrieben. Die
UN verzeichnen so viele Geflüchtete wie noch nie.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.