| # taz.de -- Integrationsdebakel in der Provinz: Der Traum vom Ziegenhof | |
| > Bis zu ihrer Flucht produzierte Familie Aliadeh in Syrien Ziegenkäse. | |
| > Auch in Deutschland bauen sie einen Betrieb auf. Bis alles schiefgeht. | |
| Bild: Die Kinder der Aliadehs spielen mit den Ziegen | |
| Yazid Aliadeh hat einen Traum: Er will Ziegenkäse produzieren. So wie es | |
| seine Familie in Syrien schon immer gemacht hat. 2015 war Aliadeh nach | |
| Deutschland geflohen. 2019 pachtete er einen Hof in Randegg, einem Dorf in | |
| der Nähe von Konstanz. Er sanierte ihn, kaufte 170 Ziegen und baute das | |
| Erdgeschoss um in eine Käserei. Dann zog er mit seiner Frau und den drei | |
| Kindern ein in den Landgasthof Adler – so heißt der Hof. Er liegt inmitten | |
| breiter Weiden und Felder. | |
| 22 Zimmer, ein großer Stall, drei Hektar Boden. Kinder spielen auf dem Hof, | |
| Ziegen laufen hinterher, sie wissen: Wenn die Kinder auf Apfelbäume | |
| klettern, fallen Früchte herab. | |
| Hier sollte das neue Leben von Yazid Aliadeh und seiner Familie beginnen. | |
| Doch dann ging alles schief. Im Oktober schon soll die Familie ausziehen. | |
| Scheitert der Traum vom Ziegenkäse, scheitert auch der Versuch der | |
| Aliadehs, in Deutschland Fuß zu fassen. Aus einem Traum wird ein Albtraum, | |
| für den die Behörden, der Eigentümer, die Nachbarn und die Aliadehs die | |
| Schuld jeweils beim anderen suchen. | |
| Die Familie, das sind inzwischen 24 Menschen: Yazid Aliadehs Eltern, | |
| Geschwister und deren Kinder. Sie haben auch in Syrien zusammengelebt, | |
| bevor alle Familienmitglieder nach Deutschland flüchteten. „Es ist ein | |
| Wunder, dass wir wieder zusammen sind“, sagt Yazid Aliadeh. „Nach langer | |
| Flucht und Trennung war es eine Wiedervereinigung“. Er versucht, einen | |
| Strohballen auseinanderzupflücken. Doch die Ziegen haben einen engen Kreis | |
| darum gebildet und lassen ihn nicht ran. Er hat keine Chance, er lässt die | |
| Ziegen seine Arbeit machen. | |
| Yazid Aliadehs Farbe ist Schwarz. Er trägt schwarze Jeans und eine | |
| abgenutzte schwarze Lederjacke. Seine Haare sind schwarz, seine | |
| Augenbrauen, der Bart. Die Hände sind von der Erde geschwärzt, und die | |
| Zähne sind graubraun vom Rauchen. Wer bei ihm zu Gast ist, darf das Haus | |
| nicht verlassen, bevor er nicht gegessen hat. Eine Sache versteht er in | |
| Deutschland nicht: Wann die Menschen jemanden anlachen und wann sie ihn | |
| auslachen. | |
| Es hat vier Jahre gedauert, bis die Aliadehs in Deutschland wieder | |
| zusammenfanden. Erst suchten die älteren Brüder den Weg nach Deutschland, | |
| dann die jüngeren, als Letzte kamen die Eltern, Frauen und Kinder. Yazid | |
| Aliadeh ist 38. Er war längst weg von zu Hause, verdiente sein Geld als | |
| Baggerfahrer in Dubai. Als der Bürgerkrieg in Syrien ausbrach, kehrte er | |
| kurz dorthin zurück, dann flüchtete er. Ende 2014 kam er nach Singen in | |
| Baden-Württemberg. Dorthin hatte es auch sein jüngerer Bruder Obada über | |
| Griechenland und den Balkan geschafft, nachdem er zwei Jahre lang in einem | |
| Zelt in einem Flüchtlingslager in der Türkei ausgeharrt hatte. In der Nähe | |
| von Singen wohnte ihre Schwester Asma; seit 14 Jahren schon ist sie in | |
| Deutschland. Sie war mit einem Deutsch-Iraker verheiratet, der 2016 bei | |
| einem Autounfall starb. Lebte die Großfamilie anfangs über ganz | |
| Baden-Württemberg verteilt, fand sie im Landgasthof Adler in Randegg wieder | |
| zusammen. | |
| „Al-Hamdu li-Llāh“, sagt der Vater, „Gott sein Dank.“ Jassim Aliadeh i… | |
| 61. Er versteht kein Deutsch, fühlt sich schon lange müde und erschöpft. | |
| „Wir haben hier nicht den gleichen Lebensrhythmus wie in Syrien“, sagt er. | |
| Sein Sohn übersetzt. Mit unsicheren Schritten geht er in Richtung Haustür | |
| und setzt sich auf einen Stuhl in die Sonne. Mehr reden möchte er nicht; | |
| auch die Frauen des Hauses schweigen. Erst wenn ihre Männer es erlauben, | |
| sprechen sie. | |
| Obada Aliadeh, 25, erklärt: Die Frauen wachen über die Kinder, die Männer | |
| wachen über die Frauen, der Vater kontrolliert die ganze Familie. In | |
| Deutschland allerdings ändere sich das: Wer besser Deutsch kann und mehr | |
| deutsche Regeln versteht, hat mehr Macht. | |
| Die Aliadehs wollen in Deutschland ankommen, arbeiten, Geld verdienen. 2017 | |
| gründeten sie deshalb eine Reinigungsfirma. Alle Familienmitglieder | |
| arbeiteten mit, Männer und Frauen. „Wir haben Tag und Nacht gearbeitet und | |
| alles gespart“, sagt Obada Aliadeh. Sie putzten die Gebäude der Universität | |
| Konstanz, Fabriken, öffentliche Toiletten am Bodensee – als Subunternehmer | |
| bekamen sie dafür kaum Geld. 2019 entschied die Familie, es solle Schluss | |
| sein mit dem Toilettenputzen. Sie wollte ihre Kraft, Zeit und ihr Wissen in | |
| die Landwirtschaft stecken – so wie sie es aus Syrien kannten. | |
| Obada Aliadeh spricht bedacht, erzählt nichts Unnötiges. Er distanziert | |
| sich von den anderen Familienmitgliedern und lässt sich nicht mit seiner | |
| Familie fotografieren. Zumindest nicht für Bilder, die für die | |
| Öffentlichkeit bestimmt sind. Obada Aliadeh hört zu, egal was man ihm | |
| erzählt und wie lange. Er widerspricht nicht. Doch er setzt seine Meinung | |
| in der Familie durch. Auch in der Frage, wie weit ein Gast in den | |
| Wohnbereich der Familie blicken darf: nicht sehr weit. Barack Obama – so | |
| könne man sich seinen Namen merken, sagt er. | |
| Obada Aliadeh hat einen gepflegten Bart und gestylte Haare. Er trägt eine | |
| leicht zerrissene Jeans und Turnschuhe, beim Sprechen verschränkt er gern | |
| die Arme. „In Syrien haben wir seit mehreren Generationen Ziegen und Schafe | |
| gehalten, mindestens 400 Tiere.“ In Deutschland wollten er und seine | |
| Familie Käse aus eigener Produktion auf den Markt bringen: arabischen | |
| salzigen Käse, aber auch europäischen, der Mozzarella ähnelt. | |
| Ziegenhaltung ist in Deutschland nicht so stark verbreitet, knapp 140.000 | |
| Ziegen sind es laut Statistischem Bundesamt insgesamt. Sie werden in Herden | |
| von meist weniger als 10 Tieren gehalten. Und dann erwerben die Aliadehs | |
| gleich 170 Ziegen in kurzer Zeit. | |
| Andererseits: Den Käsemarkt hatten sie gründlich studiert. Nicht nur | |
| Deutsche würden ihre Käsesorten kaufen, sondern auch die benachbarten | |
| Schweizer, die Ziegenkäse schätzen und gern in grenznahen deutschen | |
| Supermärkten einkaufen. Die Hauptabnehmer allerdings sollten arabische | |
| Großhändler in Mannheim und Stuttgart sein. | |
| Obada Aliadeh führt durch die Produktionsräume auf dem Adlerhof, sie sind | |
| saniert, frisch gefliest, mit Käsekesseln, Messgeräten und einer | |
| Dampfheizung ausgestattet. „Alles ist da, und es wurde noch nie benutzt“, | |
| sagt er. | |
| Im Sommer 2019 kamen die Ziegen auf den Hof. „In Deutschland gibt es keinen | |
| Tiermarkt so wie in Syrien, wo man Ziegen und Schafe einfach kaufen kann“, | |
| sagt Obada Aliadeh. Ihre ersten Ziegen kauften die Brüder über | |
| Ebay-Kleinanzeigen. Tier für Tier, bis ein Bauer aus der Nähe von Leipzig | |
| alle seine Ziegen auf einen Schlag loswerden wollte. 144 Tiere. „Entweder | |
| alle oder keine“ war seine Bedingung. Die Familie entschied sich für den | |
| Kauf. Das Fiasko begann. | |
| „Schlachten, ältere Tiere verkaufen, Zicklein nach und nach auch | |
| schlachten“ – das ist der Plan des Veterinäramts in Konstanz für die Zieg… | |
| vom Adlerhof. Nach ihrem Besuch Ende Juli waren die Veterinäre alarmiert: | |
| „Viele Ziegen zeigen reduzierten Ernährungszustand. Zurzeit [ist] nur ein | |
| großer Ballen Heu da. Keine Futtervorräte“, heißt es in einem aktuellen | |
| Bericht des Veterinäramts, der auch die dringenden Forderungen enthält, bei | |
| den Tieren eine Klauenkorrektur durchzuführen, Einstreu im Stallbereich | |
| auszulegen und für die Tiere gefährliche Gegenstände wie Blech und Draht | |
| von den Weiden zu entfernen sowie tote Ziegen zu entsorgen. „Wenn kein | |
| positiver Bescheid vom Baurechtsamt kommt, wird der Ziegenbestand | |
| abgebaut“, protokollieren die Veterinäre. | |
| Was da schiefgelaufen ist? Alles. „Wir haben unser ganzes Geld investiert | |
| und noch Geld von unseren Verwandten geliehen. Wir dachten, dass wir schon | |
| bald Käse herstellen könnten. Und dass das unser Glück sein könnte“, sagt | |
| Obada Aliadeh. Mehr als 100.000 Euro habe die Familie insgesamt in den | |
| Landgasthof Adler investiert. | |
| Doch die Beamten stoppten die Bauarbeiten und verhinderten die | |
| Käseproduktion. „Der Stress beginnt mit dem Briefkasten. Jeden Tag bekommen | |
| wir neue Rechnungen, größere Zahlen, längere Texte, die wir nicht | |
| verstehen“, sagt Obada Aliadeh. Er betritt ein Empfangszimmer, in dem eine | |
| orientalische Sitzecke ist. Vorher zieht er seine Schuhe aus. Vor der Tür | |
| stehen Schuhe in jeder Größe, drinnen riecht es nach Kardamom. Es gibt | |
| arabischen Mokka und Datteln. | |
| Von 170 Ziegen sind im August 120 geblieben. Die Brüder haben schon viele | |
| Tiere verkauft, damit die anderen satt werden. Doch das Geld reicht immer | |
| noch nicht. Viele Tiere sehen tatsächlich abgemagert aus. Zicklein laufen | |
| hinter ihren Müttern her und versuchen, aus trockenen Eutern zu saugen. Es | |
| gibt kaum Milch, weder für die Zicklein noch für die Familie. Und die, die | |
| da ist, müssen die Aliadehs wegschütten. Sie dürfen sie nicht verkaufen. | |
| Eine Bäuerin ist heute extra zum Hof gefahren, 20 Kilometer weit, und hat | |
| zwei riesige Behälter mit Ziegenfutter mitgebracht: Kohlblätter, | |
| Salatköpfe, Brot. Sie will ihren Namen nicht nennen, „es ist ja egal, wenn | |
| man helfen will, dann hilft man“, sagt sie. Auch ein älterer Herr aus | |
| Singen ist da, weil er gehört hat, dass die syrischen Flüchtlinge in Not | |
| sind. Der Mann reicht Obada Aliadeh einen Briefumschlag, entschuldigt sich, | |
| dass er nicht mit mehr Geld helfen kann. „Ich bin nur ein Rentner“, sagt | |
| er. | |
| Anders ist die Stimmung in der direkten Nachbarschaft des Landgasthofs | |
| Adler. Ein Nachbar knallt die Tür zu, als man ihn auf den Ziegenhof | |
| anspricht. Dieser Nachbar soll – so erzählen es die Aliadehs – auch die | |
| Polizei gerufen haben, weil die Familie zu laut gefeiert habe. | |
| Eine Nachbarin antwortet erst nur knapp. „Mein Mann ist Beamter im | |
| Rathaus.“ Dann kommt sie doch ins Erzählen. Sie habe nichts zu beanstanden. | |
| Springe ein Zicklein in ihren Garten, helfe sie ihm, zurückzufinden. Doch | |
| beim anderen Nachbarn, auf dessen Bio-Gemüsebetrieb, da haben die Ziegen | |
| was von der Ernte gefressen. „Der ist sauer, dem sollten Sie besser nicht | |
| begegnen.“ Der Mann ist nicht zu finden, er scheint nicht zu Hause zu sein. | |
| Tatsächlich hat Yazid Aliadeh den Zaun so gebaut, dass die Ziegen | |
| herausspringen können. Und nicht nur der Zaun ist nicht so, wie er sein | |
| sollte. Viele der Umbauten auf dem Adlerhof sind ohne Genehmigungen | |
| geschehen – und dafür muss die Familie jetzt den Preis bezahlen. | |
| Thomas Buser leitet das Amt für Baurecht und Umwelt in Konstanz. Er | |
| überprüft, ob es baurechtlich überhaupt zulässig ist, im Landgasthof Adler | |
| zu wohnen, Ziegen zu halten und Käse zu machen. Und er sieht folgende | |
| Probleme: Brandschutz, Tierschutz, Hygieneregeln. | |
| Es müsse geprüft werden, ob das Wohnen und die Tierhaltung auf dem Hof | |
| überhaupt zulässig seien. „Es muss gewährleistet sein, dass im Falle eines | |
| Brandereignisses in der Produktionsstätte keine Gefahr für die Bewohner | |
| besteht. Deshalb muss zwischen dem Wohnbereich und der Produktionsstätte | |
| eine brandschutztechnische Abtrennung vorhanden sein“, sagt Buser. | |
| Auch seine Kollegen vom Denkmalamt wollen Anträge sehen. Das Gebäude aus | |
| dem Jahr 1921 steht unter Denkmalschutz. Alle Umbauten bedürften einer | |
| Erlaubnis. | |
| Der stellvertretende Landrat und erste Landesbeamte von Konstanz Philipp | |
| Gärtner sagt: „All diese Fragen können wir nicht beantworten, weil wir bis | |
| jetzt keine Unterlagen auf dem Tisch haben.“ Im Landratsamt hätten viele | |
| Mitgefühl mit der Familie, manche würden sogar gern mal den Ziegenkäse | |
| kosten. Hier sieht man nicht die Aliadehs, sondern den Eigentümer in der | |
| Verantwortung, erforderliche Schritte einzuleiten. „Wir verlangen nach wie | |
| vor vom Eigentümer, uns Unterlagen mit Plänen vorzulegen. Es fehlt ein | |
| Bauantrag zur Prüfung“, sagt Gärtner. Seit Monaten sei der Eigentümer | |
| entsprechenden Aufforderungen nicht nachgekommen. | |
| Doch anstatt Anträge für Genehmigungen zu stellen, kündigt er der Familie | |
| die Pacht. Bis Ende Oktober muss sie mit ihren Ziegen den Hof verlassen. | |
| Die Beamten im Landratsamt gehen davon aus, dass das Thema Landgasthof | |
| Adler dann für sie erledigt ist. | |
| Der Eigentümer des Hofs heißt Georg Wengert. Er ist 73 Jahre alt und ein | |
| bekannter Wirtschaftsprüfer und Steuerberater im Süden Baden-Württembergs. | |
| Er wohnt dort, wo die Straße endet und das Sonnenblumenfeld beginnt. Sein | |
| Haus ist frisch gestrichen, prachtvolle Sträucher und Büsche schmücken den | |
| Garten. Wengert reicht seine Visitenkarte. „Begreifen Sie das System“, | |
| steht darauf. Die 1979 gegründete Wengert Gruppe ist ein Familienbetrieb | |
| mit 35 Rechtsanwälten und Experten für Wirtschaftsprüfung, Steuer- und | |
| Unternehmensberatung. | |
| „Für mich gibt es nur einen wahren Wert: das Land“, sagt Wengert, auf einem | |
| Bauernhof auf der Schwäbischen Alb geboren und aufgewachsen. Deswegen habe | |
| er auch unbedingt den Bauernhof in Randegg kaufen wollen. Seit 27 Jahren | |
| gehört der Landgasthof Adler der Familie Wengert, bis 2018 war er an einen | |
| Bauern verpachtet, danach stand er leer. | |
| „Ich wollte niemandem zumuten, dieses alte Gebäude zu nutzen. Aber die | |
| syrische Familie hat genau das gesucht und war happy damit“, sagt er. Er | |
| schlägt mit der Hand leicht auf den Tisch, so als wollte er seine Aussage | |
| damit bekräftigen. Er wolle nur helfen, etwas Gutes tun. „Ich bin gegen | |
| Wände geraten, ich habe mir alle zum Feind gemacht, weil ich davon | |
| überzeugt war, dass das ein gutes Integrationsprojekt sein kann“, sagt | |
| Wengert. | |
| Wengert ist frisch rasiert, die grau-weißen Haare sind akkurat geschnitten, | |
| die randlose Brille sieht edel aus – doch seine Stimme passt nicht zum | |
| Look. Sie klingt unsicher, beinahe ängstlich. | |
| Das Landratsamt Konstanz habe einen unschönen Bürokratiekrieg gegen die | |
| syrische Flüchtlingsfamilie entfacht, erzählt er. Ein Trauerspiel aus | |
| überzogener Härte, vorsätzlicher Zerstörung der neuen Heimat und der | |
| wirtschaftlichen Existenz. „Das Landratsamt Konstanz geht mit seinen | |
| radikalen, rücksichtslosen und von jeder Empathie befreiten Methoden gegen | |
| die syrischen Flüchtlinge in Randegg vor“, schreibt Wengert nach dem | |
| Treffen in einer Mail. Er wirft dem Landratsamt Ausländerfeindlichkeit und | |
| Diskriminierung vor. Die öffentliche Verwaltung sei geprägt „von | |
| rassistischer Abneigung gegen die muslimisch-syrische Kultur und die andere | |
| Lebensweise der syrischen Flüchtlingsfamilie auf dem Adler-Hof“. | |
| Auf dem Hof selbst ist Wengert nicht mehr besonders gern gesehen. Die | |
| Aliadehs können nicht mehr nachvollziehen, welche Vereinbarung sie mit wem | |
| getroffen haben. Ständig kamen irgendwelche Menschen und forderten sie auf, | |
| bestimmte Bauarbeiten zu machen. Jetzt sind sie misstrauisch. | |
| Georg Wengert appellierte an die grünen Landtagsabgeordneten vor Ort, den | |
| Ministerpräsidenten Kretschmann in Stuttgart, die | |
| Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Berlin sowie die Bundeskanzlerin | |
| Angela Merkel. „Überall nur Schweigen im Walde“, sagt er. „Am meisten bin | |
| ich enttäuscht von den Gutmenschen und Willkommenskulturbefürwortern bei | |
| den Grünen.“ | |
| Die Grünen vor Ort distanzieren sich von Wengert. Keine offizielle | |
| Stellungnahme, aber eine Frau sagt, dass sie sich über Wengerts Taktiererei | |
| ärgere. So ganz klar ist dessen politische Agenda nämlich nicht: Wengert | |
| gehörte 44 Jahre der CDU an, 2017 wählte er – wegen Angela Merkels | |
| Flüchtlingspolitik – zum ersten Mal die FDP. So stand es in der Stuttgarter | |
| Zeitung. Er hatte Zweifel am rechtlichen Fundament von Merkels Politik. Es | |
| sei unklar, auf welcher Grundlage die „Grenzöffnung“ im Herbst 2015 erfolgt | |
| sei. | |
| Geht es Wengert nur ums Geld? Nutzt er aus, dass die Aliadehs nicht alle | |
| hierzulande geltenden Regeln und Rechte kennen? Wengert ließ sich mit der | |
| Familie fotografieren, er sagt, er setze sich für Integration ein und habe | |
| dafür Drohbriefe aus der Nachbarschaft bekommen. Hat er Belege? „Habe ich | |
| sofort gelöscht. Scheißdreck. Weil ich das nicht ernst nehme.“ | |
| Als der Schornsteinfeger ihm alarmiert berichtet habe, die Syrer hätten | |
| eine Maschine gekauft, die nicht in Deutschland zugelassen sei und wegen | |
| der das ganze Haus hätte in die Luft gehen können, sei ihm schwindlig | |
| geworden, sagt Wengert und nimmt die Hände vors Gesicht. Dann sagt er: „Die | |
| Syrer haben den ganzen Müll im Keller aufbewahrt. Es hat fürchterlich | |
| gestunken. Eine Katastrophe. Sie arbeiten nicht, bekommen Geld vom | |
| Jobcenter, Kindergeld, die Miete wird von der Gemeinde gezahlt, und nun | |
| lassen sie die armen Tiere verhungern“. | |
| Es scheint, als ginge es ihm jetzt, da er womöglich von den Behörden auch | |
| zur Verantwortung gezogen werden könnte, weniger um die Familie und deren | |
| Integration. „Jeder Nagel, den die Familie in die Wand schlägt, muss vom | |
| Denkmalschutz genehmigt werden“, sagt Wengert noch. Er sieht es aber nicht | |
| als sein Problem an. | |
| Im Pachtvertrag hat Wengert geregelt, dass er oder Annemarie Wengert, eine | |
| Familienangehörige von ihm und juristisch die Eigentümerin, nicht | |
| verpflichtet werden können, für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen | |
| Vorschriften ihrer Pächter Sorge zu tragen. „Wenn ich das nicht gemacht | |
| hätte, hätte die Miete 5.000 Euro statt 1.600 kosten müssen. Ich will meine | |
| Ruhe haben“, sagt Wengert. | |
| In einem kann man ihm recht geben. Warum fielen dem Landratsamt die | |
| erforderlichen Genehmigungen so plötzlich wieder ein? Vor der syrischen | |
| Familie wohnten auf dem Hof auch schon Menschen, seit 1970 ist dort ein | |
| Gasthaus mit landwirtschaftlicher Nutzung dokumentiert. Ein deutscher Bauer | |
| hatte den Hof gepachtet für seine irischen Pferde, die Kühe, Schafe und | |
| Ziegen. Die Räumlichkeiten des Gasthauses wurden immer wieder vermietet. | |
| Nachbarn, die seit mehr als 13 Jahre dort wohnen, besuchten oft die | |
| Dorfkneipe im Hof. Auch der seit 16 Jahren amtierende Bürgermeister von | |
| Gottmadingen erinnert sich, wie die Pferde des Landgasthofs Adler ab und zu | |
| ausbrachen und auf der Straße trotteten. | |
| „Es war uns schlichtweg so nicht bekannt“, gibt das Landratsamt zur | |
| Antwort. „Und jetzt ist es bekannt.“ | |
| Mit der Kündigung lösen Wengert und das Landratsamt ihre Probleme. Und was | |
| passiert mit Familie Aliadeh? Yesid Aliadeh findet klare Worte. Seine | |
| Familie wurde von Wengert ausgenutzt, weil sie die deutschen Gesetze und | |
| Vorschriften nicht so gut kenne. „Ich schlachte meine Tiere nicht“, sagt | |
| er. | |
| Vielleicht muss er das auch nicht. Arthur Müller, ein Pharmaunternehmer aus | |
| der Region, will juristisch gegen das Landratsamt und den Vermieter Wengert | |
| vorgehen. Dafür hat er vor Kurzem einen Anwalt engagiert. Müller ist 74 | |
| Jahre alt. Ein kräftiger Mann. Er ist schwerhörig und redet deswegen sehr | |
| laut. Und wenn er verärgert ist, hört man seine Stimme auf dem ganzen Hof. | |
| Müller nennt das Landratsamt und Wengert „dubios“ und „schikanös“. | |
| Er hat einen Plan: Er will ein Start-up gründen unter dem Namen „Randegger | |
| Käserei“. 25.000 Euro Grundkapital will er investieren und andere | |
| Investoren einladen mitzumachen. „Wir lassen die Aliadehs nicht scheitern“, | |
| sagt Müller. Er ist heute hier, um sich mit der Familie fotografieren zu | |
| lassen. | |
| 19 Sep 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Tigran Petrosyan | |
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