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# taz.de -- Geflüchteter sucht Arbeit in Bayern: Leben mit angezogener Handbre…
> 2018 floh Issa Koroma aus Sierra Leone nach Deutschland. Er will
> arbeiten, doch die Ausländerbehörde verbietet es. Nun hofft er auf einen
> Ausbildungsplatz.
Bild: „Wenn ich meinen Ausbildungsplatz habe, werde ich anfangen, glücklich …
MÜNCHEN taz | Ein Nachmittag im Frühling, sonnig, unbeschwert. Issa Koroma
sitzt auf einer Caféterrasse im Münchner Westend. Der 31-jährige
Geflüchtete wirkt lebensfroh und gutgelaunt. Dann sagt er: „Ich würde eher
hier in Deutschland sterben, als nach Sierra Leone zurückzugehen.“ Man
spürt die Verzweiflung des Mannes. Seit 2018 ist er in der Bundesrepublik,
er hat Deutsch gelernt, sich um Ausbildungsplätze bemüht, bei Firmen
angeheuert. Trotzdem ist Koroma zum Nichtstun verdammt. Warum?
Es gibt eine einfache Antwort und eine komplizierte. Es geht um
asylrechtliche Feinheiten, um Ermessensspielräume von Behörden, um
Anforderungen, die quasi unmöglich zu erfüllen sind. Ohne Pass keine
Arbeitserlaubnis – das ist die einfache Antwort. Koromas Asylantrag wurde
Anfang 2019 abgelehnt.
Seitdem duldet die Bundesrepublik ihn, ohne Pass kann sie ihn nicht
abschieben. Zwar können Geduldete eine Arbeitserlaubnis erhalten, aber nur,
wenn sie bei der Klärung ihrer Identität mitwirken. In Koromas Fall
verweigert die zuständige Zentrale Ausländerbehörde Niederbayern (ZAB) die
Ausstellung einer Arbeitserlaubnis.
„Herr Koroma hat eine Geburtsurkunde und ein Standardschreiben der
Botschaft der Republik von Sierra Leone vorgelegt“, erklärt eine Sprecherin
der Regierung Niederbayerns auf taz-Anfrage. Doch nach den Vorgaben des
Landesamts für Asyl und Rückführungen (LfAR) sei „für die Klärung der
Identität in diesem Fall ein Reisepass erforderlich.“
## Per Schlauchboot nach Europa
Hier beginnt die komplizierte Antwort. Einen Reisepass kann Koroma nur in
Sierra Leone beantragen. In dem Land also, aus dem er 2016 floh. Nach dem
Tod seines Vaters habe Koroma dessen Posten in der Poro-Gesellschaft
übernehmen müssen, erzählt er. Poro ist ein einflussreicher männlicher
Geheimbund in Westafrika, in dem etwa traditionelles Wissen und kulturelle
Praktiken weitergegeben werden. Mit Initiationsriten im Hinterland werden
zudem Jugendliche auf das Erwachsenenleben vorbereitet.
„In der Poro-Gesellschaft passieren sehr schlimme Dinge“, sagt Koroma.
Welche genau, darüber möchte er nicht sprechen. Doch die Mitglieder hätten
ihm mit dem Tod gedroht, sollte er die Nachfolge seines Vaters nicht
antreten. Also floh er aus seiner Heimat. Über mehrere Länder gelangte er
bis nach Libyen, wo er monatelang Zwangsarbeit verrichten musste, und kam
schließlich per Schlauchboot übers Mittelmeer nach Europa.
Dort steckt der Geflüchtete nun in einem Dilemma: Er braucht einen Pass, um
arbeiten zu dürfen. Doch mit Ausweisdokument könnte ihm die Abschiebung
drohen. Denn im vergangenen Herbst wurde Koroma, genau wie rund 300 andere
Sierra Leoner:innen aus Bayern, in München vor einer Delegation seines
Heimatlandes angehört.
Das Ziel war laut LfAR die Klärung der Staatsangehörigkeit – für die
Ausstellung von [1][Heimreisedokumenten]. Mit solchen
Laissez-passer-Papieren können Menschen auch ohne Reisepass abgeschoben
werden.
In der Debatte über Bleibeperspektiven für geduldete Menschen geht es immer
wieder um die Passproblematik. „Die Beschaffung eines Passes ist oft die
größte Hürde bei der Identitätsklärung“, erklärt Pro Asyl in einer
Stellungnahme zum neuen Migrationspaket der Bundesregierung, dem
sogenannten Chancen-Aufenthaltsrecht.
Wer zum Stichtag 1. Januar 2022 seit mindestens fünf Jahren in Deutschland
lebte und nicht straffällig geworden ist, soll eine Aufenthaltserlaubnis
bekommen können. Ein Meilenstein in den Augen der Ampelkoalition. Von der
Passpflicht will die Regierung aus SPD, Grünen und FDP allerdings nicht
abrücken, [2][kritisiert Pro Asyl].
Auch die Union übt Kritik am neuen Gesetzentwurf, wenn auch aus anderen
Gründen. „Die neuen Regeln sind so angelegt, dass Tausende ein Bleiberecht
erhalten, ohne zu arbeiten“, sagt etwa Bayerns Innenminister Joachim
Herrmann (CSU).
## Sehr enttäuscht
Zudem schaffe das neue Gesetz eine Bleibeperspektive auch für Geduldete,
die sich nicht um Integration bemüht hätten. „Der Antrag auf Erteilung
einer Ausbildungsduldung für die Ausbildung zum Bäcker wird abgelehnt.“ Es
ist ein Schreiben der ZAB vom 19. August 2021, das Koromas Hoffnungen
zerstört. Der Geflüchtete zieht den Brief aus einer hellgrauen Mappe und
legt ihn auf den Cafétisch. Koroma habe bei der Klärung seiner Identität
nicht ausreichend mitgewirkt, erläutert die Ausländerbehörde auf mehreren
Seiten.
„Ich war so enttäuscht und wusste nicht, was ich noch tun soll“, erzählt
Koroma. Er spricht mit lauter Stimme, untermalt das Gesagte mit ausladenden
Gesten. Immer wieder streut er deutsche Begriffe wie „Duldung“ oder
„Ausbildung“ in sein Englisch ein oder kramt Behördenschreiben aus der
Mappe hervor.
Seit einigen Jahren können Geduldete wie er durch Ausbildungsplätze
Bleibeperspektiven erlangen. Im Jahr 2016 schuf die damalige schwarz-rote
Bundesregierung das erste bundesweite Integrationsgesetz. Es enthält die
sogenannte 3+2-Regelung: Geduldete, die einen Ausbildungsplatz haben,
bekommen für die gesamte Dauer (meist drei Jahre) eine Ausbildungsduldung.
Anschließend dürfen sie in ihrem Beruf arbeiten und erhalten einen
Aufenthaltstitel, der zunächst für zwei Jahre gilt, aber verlängerbar ist.
„Dieses Gesetz würde auf Issa eins zu eins zutreffen“, sagt Stephan
Reichel. Er ist Vorsitzender des christlichen Flüchtlingshilfevereins
„matteo – Kirche und Asyl“ und kennt Koroma seit einigen Jahren. Mit einer
„großen Boshaftigkeit“ habe die ZAB es dem Sierra Leoner verbaut, sagt
Reichel. „So jemanden nicht arbeiten zu lassen, da gehört auch eine große
menschliche Charakterschwäche dazu.“
Das Problem sei, dass viele Sachbearbeiter:innen ihren
Ermessensspielraum „brutal negativ“ anwendeten. Schon seit Jahren gibt es
Kritik an den bayerischen Ausländerbehörden. Immer wieder beklagen
Aktivist:innen und Geflüchtete, aber auch Wirtschaftsakteur:innen
willkürliche Entscheidungen etwa zu Arbeitserlaubnissen und Duldungen. „Das
ist einfach zum Teil auch politischer Wille“, sagt Katharina Grote vom
Bayerischen Flüchtlingsrat.
## „Keine ausländerrechtliche Zuständigkeit“
Die niederbayrische ZAB handele lediglich nach Bundesgesetzen und nach
Vorgaben des LfAR, betont die Sprecherin der Regierung Niederbayerns. Das
LfAR äußert sich nicht zu den Vorwürfen, Geflüchtete würden je nach
Ausländerbehörde unterschiedlich behandelt. Hierfür bestünde im LfAR „kei…
ausländerrechtliche Zuständigkeit“, erklärt ein Mitarbeiter.
Während viele Geflüchtete nicht arbeiten dürfen, suchen bayerische
Unternehmen händeringend nach Mitarbeiter:innen. Nach Angaben der
bayerischen Arbeitsagenturen gab es im Juni etwa 160.000 offene Stellen und
über 48.000 bislang unbesetzte Ausbildungsplätze. Issa Koroma würde sich im
Herbst gern zum Sozialpfleger ausbilden lassen. Eine Ausbildung zum
Pflegefachhelfer hatte er 2020 schon einmal begonnen. Da es sich um eine
schulische Ausbildung handelte, brauchte er keine Arbeitserlaubnis.
Koromas Mund verzieht sich zu einem Lächeln, als er vom Alltag im
Pflegepraktikum erzählt: „Ich mochte es, den Menschen zu helfen.“ Doch
abschließen konnte er die Ausbildung nicht – die Pandemie kam dazwischen.
Die Internetverbindung seiner Asylunterkunft in Ringelai, einer kleinen
Gemeinde im Bayerischen Wald, sei überlastet gewesen, erzählt er. Ohne WLAN
kein Online-Unterricht, ohne Unterricht kein Abschluss. Danach habe er
nicht nur herumsitzen wollen. Also suchte er sich Arbeit und fand die
Bäckerei, die ihm nach einem Praktikum einen Ausbildungsplatz anbot.
„Issa ist ein extrem engagierter und fleißiger Mensch“, sagt Mduduzi
Khumalo. Er habe viele Deutschkurse belegt, Beratungstermine wahrgenommen
und versuche jetzt, Ausbildungsvorbereitungskurse an der Volkshochschule zu
besuchen. Khumalo ist Aktivist bei Plus X Black Definition Matters, einer
antirassistischen Gruppe aus München.
## Traum von Arbeit in München
Koroma kennt er aus dem Protestcamp, zu dem sich sierra-leonische
Geflüchtete aus ganz Bayern zusammengeschlossen haben. Seit den
Botschaftsanhörungen protestieren sie gegen die drohende Abschiebung, ihre
Zeltpavillons haben sie auf einem Platz im Münchner Westend aufgeschlagen.
Khumalo unterstützt sie bei Behördengängen und Demonstrationen,
Lokalpolitiker:innen und Aktivist:innen setzen sich für sie ein.
Vor einigen Monaten war Kardinal Reinhard Marx zu Besuch im Camp. Doch an
der Lage der Sierra Leoner:innen hat sich nichts geändert: Ihre Zukunft
ist ungewiss. Koroma ist fast täglich im Camp, hat hier
Mitstreiter:innen und Freund:innen gefunden.
Er würde gerne nach München ziehen und arbeiten. „Wenn ich meinen
Ausbildungsplatz habe, werde ich anfangen, glücklich zu sein“, sagt er.
Geht sein Plan auf, könnte er endlich ankommen – und seine Zukunft selbst
gestalten.
4 Aug 2022
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## AUTOREN
Jonas Wagner
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