| # taz.de -- Erdrutsche in Sierra Leones Hauptstadt: Auf Schlamm gebaut | |
| > In Freetown starben vor sechs Jahren über 1.100 Menschen bei Erdrutschen | |
| > – ausgelöst vom maßlosen Stadtwachstum. Seitdem hat sich kaum etwas | |
| > getan. | |
| Bild: Eine riesige Schlammlawine hat vor knapp sechs Jahren die Familie von Mr.… | |
| Freetown taz | Mister Joseph kennen in Kamayama alle. Der hagere Mann steht | |
| in einer Senke mit riesigen Steinen. Rechts und links sind Häuser | |
| notdürftig aus Planen, Wellblech und ein paar Balken zusammengezimmert. Die | |
| Senke, die sich durch das Viertel schlängelt, erinnert an ein | |
| ausgetrocknetes Flussbett. Mister Joseph steht aber tatsächlich auf den | |
| Ruinen seines Hauses in Sierra Leones Hauptstadt Freetown, in dem er bis | |
| zum 14. August 2017 mit seiner Frau und seinen Kindern lebte. | |
| Wasser- und Schlammmassen fraßen sich an jenem Montagmorgen bei anhaltendem | |
| Starkregen durch den Stadtteil Kamayama und ließen diese Schlucht zurück. | |
| Mehr als 1.100 Menschen starben und über 3.000 wurden obdachlos. Auch | |
| Mister Josephs Familie starb. | |
| Dass er selbst überlebte, verdankt er einem Krankenhausaufenthalt in der | |
| Stadt Makeni im Norden des Landes. An jenem Tag rief seine Schwester ihn an | |
| und berichtete von der Katastrophe, den Vermissten, den Leichen, vor allem | |
| den unvorstellbaren Schlammmassen, die den Hügel heruntergerollt waren. | |
| Zuvor hatte er überlegt, ganz nach Makeni zu ziehen. „Doch nach dem | |
| Gespräch wusste ich: Ich muss sofort zurück.“ | |
| In seiner unmittelbaren Nachbarschaft wurden später 43 Leichen gezählt. | |
| Mister Joseph hat nicht nur seine Kernfamilie verloren, sondern seitdem | |
| auch keine eigene Unterkunft mehr. „Ich bin zum Caretaker geworden“, sagt | |
| er. Es ist die geschönte Umschreibung dafür, dass er in halbfertigen | |
| Häusern übernachtet und sie so bewacht. | |
| ## Klimawandel sorgt für unvorhersehbare Regenfälle | |
| Knapp sechs Jahre ist das Unglück her. Doch in Freetown, mit seinen Hügeln, | |
| die einst komplett von Regenwald bedeckt waren, den langen Sandstränden und | |
| engen Straßen, die dem Verkehr längst nicht mehr gewachsen sind, hat es | |
| sich tief in das kollektive Gedächtnis gegraben. Bis heute erinnert die | |
| komplett entwaldete, hellbraune Fläche, die vom Grün der Bäume umgeben ist, | |
| schon aus der Ferne wie ein Mahnmal daran. | |
| Auch in den Folgejahren starben bei kleineren Erdrutschen zahlreiche | |
| Menschen. Jetzt, zu Beginn der Regenzeit, steigt die Angst, dass sich eine | |
| solche Katastrophe wiederholen könnte. Die höchste Niederschlagsmenge wird | |
| für August erwartet. | |
| Der Klimawandel, so heißt es oft, sorgt für sintflutartige Regenfälle mit | |
| unvorhersehbaren Ausmaßen. Von Überschwemmungen betroffen sind in | |
| Westafrika nicht nur Küstenorte, sondern auch Städte im Süden der | |
| eigentlich trockenen Sahelzone wie Ouagadougou in Burkina Faso oder | |
| Gegenden entlang von Flüssen. In Nigeria mussten vergangenes Jahr mehr als | |
| 1,4 Millionen Menschen ihre Häuser verlassen, als das Land die schlimmsten | |
| Überschwemmungen seit 2012 verzeichnete und Hunderte starben. | |
| Vieles ist menschengemacht, sagt James Sillah. Der [1][Sierraleoner ist | |
| Umweltaktivist], lebt ebenfalls in Kamayama und versorgte 2017 zahlreiche | |
| Obdachlose. „Schon vor dem Unglück haben wir gewarnt: Die Abholzung der | |
| Regenwälder ist desaströs.“ Wiederaufforstungsprojekte seien dringend | |
| notwendig, sagt er und zeigt auf eine Reihe junger, neu gepflanzter Bäume. | |
| ## Das Problem: der große Zuzug | |
| Auch müsse dringend etwas gegen das sogenannte sand mining unternommen | |
| werden. Das [2][Abtragen von Sand, um ihn an Baufirmen zur | |
| Zementherstellung] zu verkaufen, fand zunächst entlang der Strände statt. | |
| Längst würden aber auch in diesem Viertel junge Menschen Sand an Baufirmen | |
| verkaufen, um überhaupt etwas zu verdienen. „Grund dafür sind mangelnde | |
| Arbeitsplätze“, so Sillah. Sierra Leones nationale Jugendkommission | |
| schätzt, dass etwa 70 Prozent der jungen Erwachsenen arbeitslos oder | |
| unterbeschäftigt seien. Die Rede ist von 800.000 Personen. | |
| Ein Problem ist allerdings auch der massive Zuzug nach Freetown seit dem | |
| sierraleonischen Bürgerkrieg. Der [3][amtierende Präsident Julius Maada | |
| Bio], der sich gerade zur Wiederwahl stellt, war in den Kriegszeiten | |
| kurzzeitig Staatschef an der Spitze einer Militärjunta, die 1996 die Macht | |
| an gewählte Zivilisten abgab. | |
| Aber der Krieg endete erst 2002. Rund 2,5 Millionen Menschen wurden in den | |
| Jahren des Krieges, als Milizen und Rebellen Zehntausende Menschen töteten, | |
| aus ihren Dörfern vertrieben, suchten zunächst Schutz in Freetown und | |
| blieben dann dort. Neue Wohnviertel aus Hütten entstanden entlang der | |
| steilen Hügel, wo zuvor Bäume wuchsen – allen Warnungen zum Trotz. | |
| Vor allem für Menschen mit geringem Einkommen seien Unterkünfte knapp, sagt | |
| Mabinty Magdalene Kamara. Sie arbeitet als Reporterin bei der Tageszeitung | |
| Politico und schreibt über Landrechtsfragen. Die Obdachlosigkeit würde | |
| tagsüber kaum auffallen. „Nach 22 Uhr suchen zahlreiche Menschen an den | |
| Hauptstraßen einen Platz zum Schlafen. Die Stadt ist seit 20 Jahren | |
| überbevölkert.“ | |
| Das führe zu zahlreichen Konflikten. „Zugezogene haben Flächen besetzt, um | |
| Gärten zu errichten.“ Auch würden sich mitunter mehrere Personen um | |
| Grundstücke streiten. Auf Schildern wird vor Häusern wie unbebauten Flächen | |
| deshalb gewarnt: „Dieses Land steht nicht zum Verkauf.“ Denn | |
| Betrüger:innen würden mithilfe von gefälschten Papieren versuchen, für | |
| Land, das ihnen nicht gehört, Geld zu kassieren. | |
| ## Taxifahrer sollen sich bei Landlotterie bewerben | |
| Die sogenannte Mittelschicht finde zwar Wohnungen. Doch die Miete, die für | |
| ein Jahr im Voraus bezahlt werden muss, wird in US-Dollar verlangt. Die | |
| Inflationsrate lag in Sierra Leone vergangenes Jahr bei gut 27 Prozent. | |
| Die Regierung hat deshalb im Jahr 2022 eine Landlotterie entwickelt. In | |
| Abständen werden bestimmte Berufsgruppen je nach Einkommen aufgerufen, sich | |
| zu bewerben. Zuletzt waren es Taxifahrer. Mabinty Magdalene Kamara hatte | |
| mehrfach darüber berichtet, bis Kolleg:innen sie aufforderten, | |
| mitzumachen. „Sie sagten: Das dauert bloß ein paar Minuten. Ich war | |
| allerdings skeptisch.“ | |
| Als die Auslosung für Journalist:innen, Lehrer:innen, medizinisches | |
| Personal und Regierungsangestellte erfolgte, arbeitete sie gerade in ihrer | |
| Redaktion und verfolgte die Bekanntgabe der Namen beiläufig. Plötzlich | |
| wurde ihrer aufgerufen. „Und plötzlich gehörten mir zwei Baugrundstücke. | |
| Ich war eine von 500.“ | |
| Kamaras Fläche liegt in Bureh südlich von Freetown, wo eine neue Stadt | |
| entstehen soll. Der Gewinn ist allerdings mit zahlreichen Verpflichtungen | |
| verbunden. In den ersten drei Jahren muss eine jährliche Pacht in Höhe von | |
| 150 US-Dollar gezahlt werden. Gelingt das, erhält sie die Papiere und kann | |
| die Fläche weiterverkaufen oder selbst bauen. Das wird trotz aller Freude | |
| die nächste Herausforderung: Bauen muss man sich leisten können. „Durch die | |
| hohe Inflation kostet ein Sack Zement mittlerweile mehr als 12 US-Dollar.“ | |
| 25 Jun 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Gänsler | |
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