# taz.de -- Bauprojekt bedroht indigene Kultur: Windpark versus Lebensraum | |
> Der Bau von Windparks in Norwegen boomt. Und hinter vielen Projekten | |
> stehen deutsche Investoren. Interessen der Samen werden übergangen. | |
Bild: Beim Bau von Windkraftanlagen werden die Interessen der indigenen Samen �… | |
STOCKHOLM taz | Jedes Jahr im Juni veröffentlicht die norwegische | |
Energieregulierungsbehörde NVE Informationen über die einheimische | |
Stromproduktion und den Stromverbrauch des Vorjahres. Es sind auf den | |
ersten Blick äußerst merkwürdige Zahlen. | |
Da wurde in Norwegen zu 98 Prozent Strom aus erneuerbaren Quellen | |
produziert – überwiegend ist das Wasserkraft. Auf der Verbrauchsseite | |
standen die Erneuerbaren in Norwegen aber nur für 9 Prozent, Strom aus | |
fossilen Quellen dagegen für 58 und Atomstrom für 33 Prozent. In einem Land | |
ohne ein einziges AKW und mit nur einer Hand voll kleiner Wärmekraftwerke? | |
Tatsächlich kommt in Norwegen nahezu durchweg Wasserkraftstrom aus der | |
Steckdose. Auf dem Strommarkt wurde der aber mit Strom aus fossilen Quellen | |
und Atomstrom quasi getauscht. Allerdings nur virtuell. Dahinter steckt das | |
EU-System der Herkunftsnachweise (EU-Richtlinie 2009/28EG). Das ermöglicht | |
einen isolierten Handel mit der vom eigentlichen Produkt abgetrennten | |
Herkunft. | |
In Deutschland führt das System beispielsweise dazu, dass Braunkohle- oder | |
Atomstrom das Etikett Ökostrom aufgeklebt werden kann, wenn sich der | |
Stromhändler von einem Wasser- oder Windkraftproduzenten in Norwegen den | |
Herkunftsnachweis für die entsprechende Menge erneuerbaren Stroms gekauft | |
hat. | |
Für Energiewende und Klimaschutz im eigenen Land, die VerbraucherInnen mit | |
ihrer Ökostrom-Wahl womöglich fördern wollten, bringt ein solcher Tausch | |
nichts. Aber für die Produzenten in Norwegen, die das Etikett meistbietend | |
verkaufen, und den Stromhändler, der dann zum teureren Ökostromtarif | |
vermarkten kann, ist es ein lohnendes Geschäft. Der | |
Herkunftsnachweis-Bonus, der sich zusätzlich zum Stromverkauf im | |
Produktionsland selbst verdienen lässt, ist auch ein Grund dafür, dass | |
deutsche Energiemarktakteure zunehmend in Energieproduktion in den | |
nordischen Ländern investieren. | |
## Exixtenzbedrohendes Projekt | |
Skandinavien sei nun “unser wichtigster Markt“, erklärte Ingmar Helmke, | |
Investmentdirektor der Firma Aquila Capital, kürzlich in einem Interview. | |
Das Unternehmen, laut Eigendarstellung ein „alternativer | |
Investmentmanager“, der „innovative, zukunftsweisende & nachhaltige | |
Anlagemöglichkeiten“ anbiete, hatte im Januar alle Aktien eines | |
nordnorwegischen Windkraftprojekts übernommen. Auf dem Øyfjellet sollen 72 | |
Windkraftwerke gebaut werden – mit einem installierten Effekt von 400 MW | |
die derzeit größte derartige Anlage des Landes. | |
Der Same Ole-Henrik Kappfjell fürchtet aufgrund dieses Projekts um seine | |
Existenz. Zu den zentralen Weidebereichen, die seine Rentiere brauchen, | |
gehört das Øyfjellet. Ein 600 bis 800 Meter hohes Berggebiet mit bislang | |
weithin unberührter Natur, das rund 900 Kilometer nördlich von Oslo in der | |
Region Nordland liegt. | |
Für den knapp 50 Quadratkilometer großen Windkraftpark des deutschen | |
Investors werden dort derzeit 64 Kilometer Zufahrtswege und | |
Verbindungsstraßen gebaut. Ab Herbst 2021 sollen die Windkrafträder Strom | |
liefern. Sie stehen da, wo die großen Rentierherden von Kappfjell und | |
anderen Rentiersamen in diesem Distrikt traditionell von ihren Sommerweiden | |
in den Bergen zu den Winterweiden im Tiefland wechseln und umgekehrt. | |
Wegen der Bedeutung des Øyfjellet für die Rentierwirtschaft war dieser | |
Standort für eine große Windkraftanlage von der regionalen Regierung von | |
Nordland von Anfang an abgelehnt worden. Lokale VertreterInnen des | |
Naturschutzverbands „Naturvernforbundet“ sprechen von einer „Katastrophe | |
für eine 600 Jahre alte Kultur und Wirtschaftsweise“. | |
Naturschutzorganisationen und Vertreter der Samen [1][versuchten das | |
Projekt gerichtlich zu stoppen]. Doch die Justiz folgte der Argumentation | |
der Regierung in Oslo: Das gesamtgesellschaftliche Interesse am Ausbau der | |
Windenergie überwiege. | |
Die Gesellschaft Eolus, die den Bau verantwortet, erklärte auf die Kritik | |
in einer in der Lokalzeitung veröffentlichten Stellungnahme, diverse | |
Änderungen an dem Projekt vorgenommen zu haben, um die Eingriffe in die | |
Naur zu verringern. Es gebe keinen Grund, warum Windpark und Rentiere nicht | |
nebeneinander existieren könnten. | |
Wer das behaupte, verstehe nichts von Rentieren, sagen die Samen. Auf ihrem | |
jährlichen Zug zwischen den Weiden würden viele trächtige Rentiere ihre | |
Jungen zur Welt bringen. Sie bräuchten Ruhe und dürften mit ihren | |
neugeborenen Kälbern nicht gestresst und getrieben werden. So ein Windpark | |
sei aber ein außerordentlicher Stressfaktor für sie: sowohl bei seinem Bau, | |
der umfassende Eingriffe in die Natur mit sich bringe, als auch beim | |
laufenden Betrieb. | |
## Baubeginn ohne Abkommen | |
Nun wurde zwar in den Konzessionsbestimmungen für die Windkraftanlage | |
verankert, dass zwischen ihren Betreibern und den Samen ein Abkommen | |
getroffen werden müsse, welche Rücksicht auf einen möglichst ungestörten | |
Zug der Rentiere zwischen Sommer- und Winterweidegebieten genommen werden | |
solle. Obwohl es dieses Abkommen noch nicht gibt, durften in diesem | |
Frühjahr die Bauarbeiten auf dem Øyfjellet beginnen, noch bevor die | |
Rentiersamen mit ihren Tieren das Gebiet gequert hatten. Die Samen hatten | |
einen Baustopp von einem Monat gefordert, der Bauherr hielt vier Tage für | |
ausreichend. | |
Das Energieministerium begründete die Genehmigung der Fortsetzung der | |
Bauarbeiten mit den ansonsten entstehenden Kosten: „Wenn der Bauherr mit | |
Crew, Maschinen und allem bereitsteht, das kostet ja Millionen“, erklärte | |
Staatssekretärs Tony Christian Tiller: Es liege aber „im öffentlichen | |
Interesse, diese so niedrig wie möglich zu halten“. „Ein nationaler | |
Skandal“, empört sich Ellionor Marita Jåma, Vorsitzende des „Reichsverban… | |
der norwegischen Rentiersamen“ (NRL): „Die Macht des Geldes ist wichtiger | |
als das Tierwohl.“ | |
Der nun vom Øyfjellet-Projekt betroffene Rentierdistrikt hat in den | |
vergangenen vier Jahrzehnten durch den Ausbau von Straßen, Wasserkraft und | |
Stromleitungen sowie Bergbauaktivitäten bereits die Hälfte seiner | |
Weideflächen verloren. Nun verschwänden die nächsten für immer, klagt Runar | |
Myrnes Balto, Vorsitzender des Reichsverbands der norwegischen Samen (NSR). | |
Für Rentiersamen sei Windkraft weder grün noch eine Energiewende, sagt | |
Maria Fjellheim vom Zentrum für samische Studien der Universität Tromsø. Es | |
sei nur eine weitere Industrie, die sich zerstörend über die samische | |
Kulturlandschaft lege. Opfere man Natur und biologische Vielfalt dem Kampf | |
gegen die Erderwärmung, sei das keine Lösung. Sie fragt: Wie wolle man | |
rechtfertigen, dass ausgerechnet die Samen mit ihrer naturnahen Lebensweise | |
die hohen Kosten der Klimapolitik bezahlen sollen? | |
Was für Staat und Wirtschaft „grüne Energie“ sei, sei für die Samen „g… | |
Kolonialisierung“, kritisiert auch Aili Keskitalo, Präsidentin des | |
norwegischen Samenparlaments. Den Verbrauchern, die solchen Ökostrom | |
kauften, und den Anlegern, die in die fraglichen Windkraft investieren, | |
sollte klar sein, welche Folgen die Produktion von vermeintlich “grünem“ | |
Strom vor Ort tatsächlich mit sich bringen würde. | |
6 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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