# taz.de -- Datensicherheit versus Pandemieschutz: Kuchenmathematik | |
> Die Bundesregierung findet es okay, wenn die Polizei sich | |
> Corona-Gästelisten aus Restaurants anschaut. Diese Haltung setzt | |
> Vertrauen aufs Spiel. | |
Bild: Liste ausgefüllt? Und, wie heißen wir heute und was darf's vom Kuchen s… | |
Es geht in dieser Pandemie, noch viel mehr als sonst, um Vertrauen. | |
Vertrauen, dass die Mitreisenden in der U-Bahn ihre Masken über Mund und | |
Nase tragen. Vertrauen, dass im Fall einer Erkrankung eine adäquate | |
medizinische Versorgung gewährleistet ist. Vertrauen, dass der:die | |
Inhaber:in des Restaurants [1][die Gästelisten] nach der vorgeschriebenen | |
Aufbewahrungszeit vernichtet – und zwar mit einem Aktenvernichter und nicht | |
durchreißen und dann ab in den Papiermüll. | |
Für alle, denen das mit dem Vertrauen irgendwie nicht greifbar genug ist, | |
hilft vielleicht das Bild eines Kuchens. Der Ethiker und Ökonom Nikil | |
Mukerji hat es vergangene Woche in einem [2][Interview mit der Zeit] | |
skizziert. Es geht folgendermaßen: Die Summe aller Freiheiten, die wir uns | |
in der Pandemie nehmen, der Risiken, die wir eingehen – von Reisen über | |
Maske weglassen bis hin zum Restaurantbesuch –, sind wie ein Kuchen. | |
Jeder bekommt ein Stück, und wenn sich eine Person ein größeres nimmt, | |
bekommt eine andere Person ein kleineres. Was Mukerji nicht sagt, was aber | |
folgerichtig auch mitgedacht werden muss: Es gibt Menschen, die brauchen | |
notwendigerweise ein größeres Stück Kuchen: der Kindergärtner, die | |
Intensivpflegerin, der:die Kassierer:in im Supermarkt, sie können nicht | |
ganz so viel vermeiden wie andere. Also muss sich ein Teil der Menschen | |
freiwillig für ein kleineres Stück Kuchen entscheiden. Muss, sollte – | |
ethisch gesehen. | |
In diesem Sinne nehmen sich die Strafverfolgungsbehörden gerade ein | |
deutlich zu großes Stück. | |
## Eins ist klar: Niemand liebt die Zettel | |
Es geht um die [3][Corona-Gästelisten], wobei Liste ein irreführender | |
Begriff ist, denn Listen sollten es aus Datenschutzgründen keinesfalls | |
sein. Sondern ein Zettel pro Person, auf den der Gast seine:ihre | |
Kontaktdaten schreibt. Sollte sich im Nachgang jemand als | |
Sars-CoV-2-positiv herausstellen, der:die sich gleichzeitig dort | |
aufgehalten hat, können so alle potenziellen Kontaktpersonen informiert | |
werden. | |
So die Idee. Toll findet die Zettel niemand, weder Lokal-Inhaber:innen | |
(noch mehr Bürokratie!) noch die Gäste (was geht die meine Adresse an?) und | |
schon gar nicht Datenschützer:innen (Schleswig-Holstein meldet bereits eine | |
dreistellige Zahl an Beschwerden). Sie sind aber im Sinne der | |
Pandemiebekämpfung tatsächlich sinnvoll, zumindest solange niemand auf eine | |
bessere Idee kommt. | |
Wäre da nicht ein Problem: die Strafverfolgungsbehörden. Die finden die | |
Listen nämlich richtig toll. Ob Drogenkriminialität oder Diebstahl – sie | |
bedienen sich munter an den Zettelstapeln. Jetzt auch mit dem Segen der | |
Bundesregierung. Das Justizministerium hat nämlich in einer Antwort auf die | |
Anfrage des FDP-Abgeordneten Marcel Klinge mitgeteilt: „Die Verwendung der | |
Daten durch Ermittlungsbehörden zur Aufklärung von Straftaten begegnet aus | |
Sicht der Bundesregierung keinen Bedenken“, und, jetzt kommt der zweite, | |
mindestens genauso entscheidende Teil: „wenn und soweit die entsprechenden | |
gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden.“ | |
Hey, will man da rufen, denkt ihr wirklich nur bis zum nächsten Paragrafen? | |
Es geht hier, in der Pandemie, doch genau darum, das Mögliche und Erlaubte | |
vielleicht nicht bis an die Grenze auszureizen. Sondern darauf zu achten: | |
Ist das eigene Kuchenstück größenmäßig noch im Verhältnis? Zu den anderen | |
Stücken – und zur Gesamtgröße? | |
## Oft legal, aber eben unklug | |
Denn natürlich bekommen Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf die | |
Restaurantkontakte, wenn sie es wollen. Ist, wenn sie das richtig angehen, | |
meist auch nicht illegal. Aber unklug. Denn die Folge ist doch: Noch mehr | |
Menschen schreiben „John Doe“ oder „Lise Mustermann“ auf den Zettel. Das | |
ist super im Sinne des Datenschutzes, aber Mist im Sinne der | |
Pandemiebekämpfung. | |
Die Strafverfolgungsbehörden sind also nicht willens oder nicht in der | |
Lage, die Größe ihres Kuchenstücks zu erkennen. Daher braucht es eine | |
gesetzliche Regelung, die die Strafverfolger:innen beschränkt. Gegenüber | |
den Bürger:innen wird das schließlich genau so gemacht, wenn deren | |
Kuchenhunger zu groß ist. Und der gesellschaftliche Preis dafür, dass aus | |
berechtigtem Vertrauensmangel viele Menschen nicht (mehr) bereit sind, ihre | |
Daten anzugeben, wird zu hoch werden. Spätestens dann, wenn die | |
Infektionszahlen so stark steigen, dass wieder eine Schließung von Lokalen | |
zur Debatte steht. | |
5 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Datenschutz-versus-Infektionsschutz/!5699504 | |
[2] https://www.zeit.de/entdecken/reisen/2020-07/nikil-mukerji-risikoethik-coro… | |
[3] /Ausgehen-in-Corona-Zeiten/!5700446 | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
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