# taz.de -- Streit ums Cornern: Kleine Freiheit in Gefahr | |
> Hamburg entscheidet über ein Außer-Haus-Verkaufsverbot von Alkohol – und | |
> damit übers Cornern. Dabei ist es eine politische und kulturelle | |
> Bewegung. | |
Bild: Prost, Schanze, altes Haus! | |
[1][St. Pauli] und die Schanze, wie das Schanzenviertel liebevoll genannt | |
wird, sind die Viertel meiner Kindheit. Im steten Wandel wechseln sie ihre | |
Gesichter wie kaum ein anderer Stadtteil in Hamburg. Die Menschen, die | |
Gebäude, die Infrastruktur verändern sich gefühlt täglich. Als ich nach 17 | |
Jahren in Berlin wieder nach Hamburg zurückkehrte, erkannte ich | |
schmerzhaft, dass diese Viertel in den letzten Jahren denselben | |
wirtschaftlichen Zwängen und demselben sozialen Druck ausgesetzt waren wie | |
der Ostteil von Berlin. | |
Wo einst in inhabergeführten kleinen Kneipen und Bars, die aus einer | |
lebendigen Stadtteilstruktur und -kultur entstanden sind, die Stammkunden | |
mit Korn und Bier abgefüllt wurden, stehen heute touristische Saufhallen, | |
die mit dem ursprünglichen Geist der Rotlichtmeile auf St. Pauli kaum noch | |
etwas verbindet. Wo einst die Betreiber und das Gaunermilieu ein Biotop | |
geschaffen haben, in dem ein Teil des dort verdienten Geldes auch wieder | |
ausgegeben und in dem gemeinsam gefeiert wurde, steht heutzutage die | |
Druckbetankung von Touristen und Arbeitnehmern aus den Randbezirken auf der | |
Karte. Deren Ausbruch aus dem tristen Büroalltag findet vornehmlich zu | |
Zeiten statt, in denen die Hamsterräder stillstehen und die die | |
Öffnungszeiten diktieren, die tatsächlich dem bürgerlichen Rhythmus | |
angepasst wurden. | |
Läden, die 24/7 geöffnet haben und die all denen, die aus dem bürgerlichen | |
Raster fallen und dem soliden Leben den Rücken kehren, gibt es auf St. | |
Pauli nur noch wenige. Sie waren die DNA und damit die Keimzelle für | |
Stadtviertel, in denen Toleranz und Vielfalt ganz einfach gelebt wurden. An | |
solchen Orten kann sich Neues, können sich Kunst und Kultur fernab von | |
kommerziellem Zwang entwickeln. | |
Heute sieht die Realität anders aus und wo einst Rock ’n’ Roll gespielt und | |
gelebt wurde, wird ein Musical nach dem anderen gegeben. Lange hat sich | |
niemand beschwert über das Schwinden der alten Läden, schon gar nicht die | |
Betreiber sogenannter moderner Etablissements, deren Kassen dank | |
Touristenschwemme und Massen angehender Eheleute aus der Provinz, die auf | |
dem Kiez zum letzten Mal die Sau rauslassen, klingelten. Während das | |
Knistern der Scheine am Ende der Woche Musik in ihren Ohren ist, plagt die | |
Kakofonie besoffener und grölender Feiernder die Anwohner auf St. Pauli und | |
in der Schanze auf eine neue und quälende Weise. | |
## Verdrängung und Gewinn | |
Den Betreibern war das egal und sie gingen erst auf die Barrikaden, als die | |
Anzahl der Kioske wuchs, die den Partygästen Drinks to go zu deutlich | |
niedrigeren Preisen anboten. Plötzlich sollte der Staat eingreifen und ihre | |
Existenzen als schützenswert anerkennen und verteidigen. Die, die erst zur | |
Verdrängung der alten Strukturen beigetragen hatten und satte Gewinne | |
einfuhren, spürten nun am eigenen Leib und im eigenen Portemonnaie, was es | |
bedeutet, von Billiganbietern überrollt zu werden. | |
Noch vor zwei Jahren habe ich selbst eine große Demo gegen die | |
Kiosk-Explosion organisiert, in der Hoffnung, den inhabergeführten Läden | |
Gehör zu verschaffen. Heute weiß ich, dass die DNA dieser besonderen | |
Stadtteile da schon längst auf dem Altar einer neoliberalen Politik | |
geopfert wurde. Und so stehe ich einer neuen kulturellen Entwicklung, die | |
sich seit einiger Zeit sowohl auf St. Pauli als auch im Schanzenviertel | |
beobachten lässt und die bereits zu heftigen Debatten geführt hat, durchaus | |
positiv gegenüber: [2][dem Cornern]. Es stellt quasi das logische Ende | |
einer Entwicklung dar, in der erst die Systemgastronomie und die | |
gewinnmaximierten Saufbuden die alten Läden fraßen, bevor sie von den | |
Kiosken gefressen wurden. | |
Jetzt frisst eine neue Kultur des Feierns und Zusammenseins sie alle, wobei | |
die Kioske vielleicht noch am besten abschneiden. Dennoch bringen viele | |
ihre eigenen Getränke mit, wenn sie sich auf Straßen, Plätzen und | |
innerstädtischen Grünflächen zusammenfinden. Während man vielleicht noch | |
nachvollziehen kann, dass die Gastronomie das Cornern verteufelt, weil es | |
ihnen schlicht Einnahmen raubt, lässt sich das Gemecker von Anwohnern und | |
der Allgemeinheit für mich nicht nachvollziehen. Stadt ist öffentlicher | |
Raum, Stadt ist lebendig – und es gibt ebenjene Stadtteile, deren | |
Geschichte sich durch eine besondere Lebendigkeit auszeichnet. | |
In Hamburg sind das St. Pauli und das Schanzenviertel, während das | |
öffentliche Leben in Berlin sich breiter verteilt. Vielleicht, weil die | |
Bürgersteige einfach breiter sind. Oder das kontinentale Klima das sich | |
Im-Freien-Aufhalten begünstigt. Oder weil die Spätis bis heute überlebt | |
haben und als Symbol eines Lebensstils jenseits von „Nine to five“ gepflegt | |
werden. | |
Das am meisten gebrauchte Argument der Anticornerer ist die angebliche | |
Lärmbelästigung. Das finde ich lächerlich. In Hamburg und Berlin erlebe ich | |
die von Menschen erzeugte Geräuschkulisse, die sich unter freiem Himmel an | |
lauen Sommerabenden bei ein paar Drinks unterhalten, als wunderbaren und | |
lebendigen Großstadtsound. Er klingt so viel harmonischer als das Grölen | |
und Pöbeln besoffener Touristen, die sich mit Wodka-Bomben für zwei Euro | |
das Hirn wegschießen, torkelnd durch die Straße ziehen und Hauseingänge | |
vollkotzen und -wände vollstrullen. Das hat mit Kultur absolut nichts zu | |
tun. | |
Das Cornern hingegen ist eine Kultur, eine Bewegung, eine bewusste | |
Entscheidung. Ein paar schöne Drinks an einem langen Sommerabend in | |
angenehmen Ambiente kosten schnell mal 50 Euro. Das ist nicht nur für | |
Studenten oder Auszubildende viel Geld, sondern auch für mich als freier | |
Autor und Schriftsteller. Günstiger bedeutet dann in der Regel billiger | |
Fusel und weniger schöne Umgebung. Macht dann auch keinen Spaß. Aber zwei | |
bis drei Flaschen meines Lieblings-Crémants, die ich bei meinem lokalen | |
Weinhändler für 10 Euro die Flasche bekomme und die ich auf einer Decke | |
unterm Baum oder auf der Mauer sitzend mit Freunden teile, dabei mit netten | |
Menschen ins Gespräch komme und mich als Teil meiner Stadt wahrnehme – das | |
ist für mich gelebte Stadtteilkultur. Ich möchte nicht gezwungen sein, mein | |
Viertel nur dann erleben und genießen zu dürfen, wenn ich konsumiere. | |
Beides mag ich gerne – das Cornern und das Verweilen in einer schönen Bar | |
oder Kneipe. Doch ich möchte die Wahl haben. So wie die Betreiber die Wahl | |
haben, sich ebenfalls als gestalterischen Teil ihrer Umgebung zu sehen, der | |
die Anwohner mit einschließt. | |
## Unter freiem Himmel | |
Und nochmal zum Thema Lärm: Vor allem in Hamburg sprechen wir von zwei | |
Monaten im Jahr, in denen wir jede Minute unter freiem Himmel genießen | |
sollten. Schließlich hat man sich für das Leben in einem bestimmten | |
Stadtteil entschieden, dessen Geschichte sich zu respektieren lohnt. | |
Ansonsten sieht es bald überall gleich aus und es werden in Großstädten die | |
Bürgersteige um 22 Uhr hochgeklappt. Wer das braucht, ist auf dem Land | |
vielleicht besser aufgehoben. Allerdings nicht zur Laichzeit, denn dann | |
legen die Frösche nach Sonnenuntergang so richtig los. | |
Lebendigkeit bedeutet Lärm und ich finde, das Cornern klingt ganz gut. | |
Außerdem müssen wir uns in Zukunft ja sowieso mehr nach draußen | |
orientieren, wenn wir Zeit mit anderen Menschen verbringen wollen. So | |
gesehen sind die Cornerer echte Trendsetter und ihrer Zeit einen großen | |
Schritt voraus gewesen. Und die Kulturbetriebe sind durch das Cornern nicht | |
ersetzbar. So gesehen findet nicht nur eine Verlagerung von inhaltslosem | |
Saufen im Innenbereich hin zum Cornern statt, sondern es besteht vielleicht | |
eine echte Chance für die Gastronomie mit kulturellem Inhalt, die jetzt die | |
einzige und wirkliche attraktive Alternative zum Cornern bietet. | |
27 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Michel Ruge | |
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