# taz.de -- Cornern als Massenphänomen: Sehen und gesehen werden | |
> Bei allen Versuchen, das Cornern einzuschränken, zeigt sich: Das Trinken | |
> auf der Straße ist in den Szenevierteln Hamburgs nicht totzukriegen. | |
Bild: Ziemliches Gedränge: Cornern in der Schanze im Juli, von der Polizei be�… | |
Hamburg taz | Cornern ist wie ein Fenstertisch im Restaurant – nur | |
billiger. Rebellisch fühlt es sich an, den Konsum von Cocktail-Flats und | |
dekanten Afterwork-Dinners durch billiges Kioskbier zu ersetzen. Kein | |
Wunder also, dass die Betreiber*innen von Restaurants, Bars und Klubs wegen | |
finanzieller Einbußen auf die Barrikaden steigen. Dort angekommen, treffen | |
sie letzten Endes aber nur auf junge Menschen, die dem Kapitalismus den | |
Stinkefinger zeigen. In New-Balance-Sneakers oder Birkenstock, versteht | |
sich. | |
„Cornern bietet jungen Menschen einen konsumfreien Raum“, sagt Mathias | |
Rohrer vom [1][Institut für Jugendkulturforschung in Hamburg]. Diese Räume | |
würden immer enger. Was sich für die Betreiber*innen von Abendlokalen wie | |
eine ignorante Revolte anfühlt, ist in Wirklichkeit schon immer da gewesen: | |
Zwei oder mehr Personen treffen sich bei einem Getränk. Die eine Person | |
erzählt von Herausforderungen ihres Alltags und die andere kratzt dabei | |
gelangweilt Etiketten vom Flaschenhals. Fragen wie „Sag mal, langweile ich | |
dich gerade?“ können dabei konsequent als Drohung verstanden werden und | |
sind deswegen zu verneinen. | |
Klar, solche Gespräch können auch in Parks stattfinden, doch | |
Bordsteinkanten besitzen sozialen Charakter. Parkbesucher*innen dagegen | |
verlangen auch im Freien nach Privatsphäre. Es ist ein unausgesprochenes | |
Gesetz, ganz abgesehen von Corona, in Parks Abstand zu wahren. Wenn Blicke | |
töten könnten, wären die letzten Worte von vielen Parkbesucher*innen: | |
„Schon gut, ich stell die JBL-Box aus. Nur noch das eine Lied.“ | |
## Cornern: Die Suche nach dem Erlebnis | |
Beim Cornern hingegen gilt es als bescheiden, seine Privatsphäre als etwas | |
zu akzeptieren, dass man dank Social Networking schon lange nicht mehr hat. | |
Da braucht man auch nicht mehr anfangen, damit zu geizen. Cornern ist das | |
FKK der Gedanken. Es ist nicht die Suche nach Entspannung, sondern nach dem | |
Erlebnis. „Von 18 Jahren bis in die frühen 30er trifft man hier auf | |
überwiegend studentisches Milieu“, sagt der Jugendkulturforscher Rohrer. | |
Auf der Straße sind alle gleich, Popos in No-Name-Jogginghosen finden sich | |
neben hochwassersicherem Beinkleid, Abendtäschchen neben Jutebeuteln. Und | |
auch wenn die cornernden Gruppen meist unter sich bleiben, ist die | |
Möglichkeit des Sehens und Gesehenwerdens immer gegenwärtig: Die Aussicht | |
auf eine Bekanntschaft ist größer, wenn man nach Feuer fragt, als wenn man | |
die Kellner*innen um ein zweites Bier bittet. | |
In einer Großstadt wie Hamburg, wo jeder sein eigenes Ding macht, aber | |
insgeheim lieber gemeinsam etwas machen würde, wirkt es beruhigend, sich an | |
etwas festhalten zu können: [2][Bordsteinkanten und Bier]. Alles kann, | |
nicht muss, aber könnte. Die Wegkanten des Konjunktivs sind unergründlich – | |
und genau deswegen so anziehend für Mittzwanziger der Generation Y, die auf | |
der Suche nach ihrer Individualität die Bordsteinkanten als kurze Rast im | |
Dickicht der Möglichkeiten nutzen. | |
An lauen Sommerabenden, wenn die stickige Luft aus Klubs und Bars nach | |
One-Night-Stand am Morgen riecht, wirkt eine Straßenkante plötzlich sehr | |
viel attraktiver. Hintergrundgespräche und eigene Musik ersetzen | |
aufgezwungene Klub-Beats. Ein „Was hast du gesagt?! Die Musik ist so | |
laut!!“ wird dann zu Unterhaltungen über Politik oder diese eine gute | |
Serie. | |
Man könnte fast sagen, man hätte eine [3][Mischung aus Klub und Bar auf die | |
Straße verlegt], ohne Zwang oder Enge – dafür mit einem Falafel in der | |
Hand. „Cornern bietet Freiheit“, sagt Jugendforscher Rohrer. Und sei es die | |
Freiheit, bis vier Uhr morgens zu verweilen – oder eben nach nur einer | |
Stunde weiterzuziehen. | |
Daran ändern auch [4][Verbote von Außer-Haus-Verkäufen von Alkohol an | |
Wochenenden] nichts. Trotz dieser Verordnungen, trotz Platzverweisen der | |
Polizei aufgrund des Infektionsrisikos hören die Menschen nicht auf zu | |
cornern. „In Zusammenhang mit Corona muss man zugeben, dass der öffentliche | |
Raum unkontrollierter ist als beispielsweise Kneipen oder Läden. Die | |
Regeldurchsetzung ist hier schwieriger“, sagt Rohrer. | |
Wo ein Wille ist, ist auch im nächsten Bezirk noch eine Bordsteinkante frei | |
und ein Kiosk offen. Um das Cornern zu unterbinden, müssten die | |
Bürgersteige abends hochgeklappt werden. Geht nur leider nicht! | |
Lesen Sie mehr in unserem Themenschwerpunkt in der gedruckten taz am | |
Wochenende oder [5][hier.] | |
28 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://jugendkulturforschung.de/ | |
[2] /Verteidigung-des-Industriebiers/!5697760/ | |
[3] /Streit-ums-Cornern/!5699175/ | |
[4] /Eindaemmung-der-Corona-Epidemie/!5699168/ | |
[5] /e-Paper/Abo/!p4352/ | |
## AUTOREN | |
Yevgeniya Shcherbakova | |
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