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# taz.de -- Samstagabend im Schanzenviertel: Die vielen
> Was bringt die Menschen dazu, sich massenhaft gedrängt vor Kiosken zum
> Trinken zu versammeln? Ich würde es gerne verstehen.
Bild: Gegenbewegung zum Social Distancing? Menschen auf der Piazza am Hamburger…
Am späteren Samstagabend lief ich vom Schlump durch die Sternschanze
Richtung Altona nach Hause, da fiel mir Folgendes auf: Am Schlump gab es
einige Kneipen oder Restaurants, die, obschon noch offen, vollkommen leer
waren. „Die armen Gastwirte“, sagte ich zu meinem Begleiter. „Schwere
Zeiten“, seufzte er.
Aber schon ungefähr hundert Meter weiter bot sich ein anderes Bild. Jeder
noch so schmuddelige, neonhelle Imbiss war bis zum Bersten gefüllt. Auf den
Bürgersteigen war kein Durchkommen, es sei denn, man ging direkt auf der
Straße. Und das ist ja eigentlich nichts, worüber ich mich wundern sollte,
weil es ja nun schon länger ein Thema ist.
Aber es wundert mich trotzdem, es ist einfach so schwer zu verstehen. Wenn
es hundert Meter weiter also diese Möglichkeiten gibt, etwas weniger
gedrängt zu stehen und zu essen und zu trinken, warum tun sie es nicht?
Warum gefällt es ihnen, in einer derartigen Enge und Lautstärke mit derart
vielen Menschen gleichzeitig auf der Straße herumzustehen?
Und so ist ja auch die Stadt aufgeteilt in diese Punkte, an denen sich
alles konzentriert, und gerade an den Rändern dieser Konzentration, an
diesen Abbruchkanten, scheint es extra leer und ruhig zu sein. Denn wenn
ein solcher, nach dem Rudel sich sehnender Mensch an diesen Kanten
angelangt ist, sieht er das Erstrebte schon in unmittelbarer Nähe und
keinen Grund, sich ausgerechnet kurz davor niederzulassen. „Da vorne sind
sie alle, die vielen, nach denen es mich sehnt. In ihrer Mitte will ich
sein, in ihrem Meer untergehen, ganz in ihre Größe eintauchen, darin
aufgehen.“
So hingeschrieben finde ich diesen Auflösungsprozess ganz hübsch, mein
Verstand kann es irgendwie erfassen, aber ein Gefühl dafür kann ich nicht
entwickeln. Manche erklären es mit einem Altersabschnitt. In der Jugend
muss es naturgemäß erstrebenswert sein, aufgrund des erwachenden
Geschlechtstriebs, man muss ja irgendwo andocken, wenn man aus der Familie
ausbricht, eine neue Gemeinschaft sich suchen oder sich gründen.
Aber in meiner Jugend hatte ich bereits eine Abneigung gegen größere
Menschengruppen, aus dem Grund, dass ja viele Menschen sehr unangenehm
sind. Sie reden dummes Zeug, in einer unangemessenen Lautstärke,
inszenieren sich unangenehm, haben eine unerträgliche Mimik und
Körpersprache, und das alles verleidet mir die Nähe solcher Menschen, die
immer wieder und überall in größeren Gruppen auftauchen, weil sie nun mal
einen Anteil unserer Gesellschaft ausmachen.
Auch ich brauche Menschen und sehne mich nach Gesellschaft, aber ich wähle
sie mir, wenn möglich, aus. In der selbst gewählten Gesellschaft ist der
Anteil der mir Unerträglichen geringer. Meine Freunde sind mir meistens
ganz angenehm und ich ihnen, hoffe ich. Aber es ist vielleicht ein Fehler,
von sich selbst solche Überlegungen auf andere auszuweiten. Vielleicht
stören sich andere Menschen gar nicht so sehr an anderen Menschen, und
vielleicht hat dieses Virus jetzt eben mit den einhergehenden
gesellschaftlichen Beschränkungen ein Vakuum geschaffen, das eine übergroße
Bedürftigkeit nach dicht gedrängten Menschenansammlungen erschuf?
Vielleicht hat die gesamtgesellschaftliche Angst vor dem Virus, vor dem
Tod!, das Bedürfnis nach einer grotesken, alles verachtenden, wahnsinnigen
Party geschürt? Der Tanz auf den Gräbern, so was in der Art?
Ich versuche ja nur, es irgendwie zu verstehen. Es sind nicht nur
Jugendliche dabei, es sind ja auch Dreißigjährige, Vierzigjährige unter
ihnen. Es ist mir fremd und ich will es verstehen. Erzeugt alles, was wir
tun, egal, in welche Richtung es geht, automatisch eine ähnlich starke
Bewegung in die Gegenrichtung? Ist der Mensch so wenig Herr über sich, dass
all seine Handlungen wenig mehr als nur ein Kratzen sind, wenn es ihn
juckt? Ich lese gerade Balzac, und der hat eine Menge über solche Dinge zu
sagen.
Die Hamburger Gesundheitsbehörde möchte jetzt ein Außer-Haus-Verkaufsverbot
von Alkohol an diesen Ballungsorten möglich machen. Gut, aber wäre das
mehr, als ein Kratzen?
29 Jul 2020
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Alkoholverbot
Sozialverhalten
Hamburg
Fremd und befremdlich
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Gastronomie
Fremd und befremdlich
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