Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch zur Bewegung der Vagabunden: Die einzig wirkliche Opposition
> Unterwegssein als widerständige Praxis: C. W. Leske hat eine äußerst
> lesenswerte Textsammlung zur Kultur der Vagabunden herausgebracht.
Bild: Gründer der Bruderschaft der Vagabunden: Gregor Gog
Ende 1928 sorgte ein Flugblatt in Deutschland für viel Aufsehen: Eine
„Bruderschaft der Vagabunden“ rief darin zum „ersten internationalen
Vagabundenkongress“ nach Stuttgart auf.
Trotz massiver Polizeisperren kamen vom 21. bis 23. Mai 1929 über 600
Teilnehmer*innen zum Kongress und demonstrierten danach durch die
Innenstadt. Vagabunden, also Landstreicher, Obdach- und Wohnungslose,
„fahrendes Volk“ wollen „die Kraft und den Willen haben, sich zu einer Art
Kongreß zusammenzutun?“, fragte ungläubig die sozialdemokratische Zeitung
Vorwärts am 4. Mai 1929.
Neben der Arbeiterbewegung gab es in der Weimarer Republik auch eine
Erwerbslosenbewegung sowie eine autonome Bewegung der Obdachlosen. Bereits
seit den 1870er Jahren kam es in ganz Deutschland zu Aufständen von
Obdachlosen, die öffentlichkeitswirksam und militant Arbeitsplätze,
gesundheitliche Versorgung und Altersunterstützung forderte.
In der Weimarer Republik war nahezu eine halbe Million Menschen obdachlos.
Inflation, Hunger und die Folgen des Krieges hatten viele Menschen auf die
Straßen getrieben. Diese Masse war dementsprechend heterogen. Zwischen
vergangenem Vaganten- und Handwerkerstolz und moderner
Reservearmee-Mentalität war eine Organisierung nahezu unmöglich.
Die Bruderschaft der Vagabunden
Einen solchen Versuch unternahm die von 1927 bis 1933 bestehende
Bruderschaft der Vagabunden. Sie stand in offener Opposition gegen die
herrschenden Organisationen der Arbeiterbewegung und orientierte sich
stärker am Anarchismus und Anarchosyndikalismus.
Gründer und bekanntester Kopf der Bruderschaft war Gregor Gog (1891–1945).
Gog organisierte landesweit Ausstellungen, vermittelte Schlafmöglichkeiten
und Aufträge an Erwerbslose und wurde bald von der Presse als „König der
Vagabunden“ bezeichnet. Für Gog stand der Vagabund „außerhalb und oberhalb
der Gesellschaft“. Von diesem Standpunkt aus wollte Gog mit seiner
Bruderschaft Politik machen, und so forderten sie keine Unterstützung vom
Staat, sondern wollten diesen direkt abschaffen. Ihr Fokus lag nicht auf
Fürsorge, sondern auf konkreter Selbsthilfe.
Durch ihre fundamentale Verweigerung der gesellschaftlichen Konventionen
bilde, so Gog, die Lebensweise der Vagabunden die einzig wirkliche
Opposition zur herrschenden Gesellschaft. Somit seien die Vagabunden die
Avantgarde des antibürgerlichen Umsturzes und die Vorkämpfer der
sozialistischen Bewegung. In seiner Rede auf dem Kongress proklamierte Gog
einen Antientwurf zur Arbeits- und Leistungsideologie der bürgerlichen
Gesellschaft. Die „Arbeit wäre Mithilfe zur weiteren Versklavung der
bürgerlichen Hölle!“, und weiter: „Der Kunde, revolutionärer als alle
Kämpfer, hat die volle Entscheidung getroffen: Generalstreik das Leben
lang! Lebenslänglicher Generalstreik!“
Das Organ der Bruderschaft war die Zeitschrift Der Kunde (später Der
Vagabund), die in einer Auflage von 1.000 Exemplaren erschien – bereits die
erste Ausgabe wurde polizeilich beschlagnahmt. In insgesamt 21 Ausgaben gab
die Zeitschrift den Vagabunden die Gelegenheit, ihre eigenen Erfahrungen
und Meinungen in Form von O-Tönen und Berichten zu veröffentlichen.
Veröffentlicht haben in der Zeitschrift unter anderem Gog selbst, aber auch
Oskar Maria Graf, Jo Mihàly oder Rudolf Geist.
Einblick durch die Protagonisten selbst
Eine äußerst lesenswerte und wunderbar aufgemachte Textsammlung zu dieser
von 1933 verdrängten Kultur ist jüngst im C. W. Leske Verlag erschienen.
„Künstler, Kunden, Vagabunden“ versammelt Grafiken und Briefe,
programmatische Texte und zeithistorische Dokumente dieser Bewegung und
bietet dadurch einen Einblick durch die Protagonisten selbst.
Trotz der selbstständigen Organisierungsversuche der Bruderschaft darf man
nicht den Fehler begehen, die Vagabunden als eine „bewusste“ Klasse zu
betrachten. Manche waren freiwillig auf der Straße, andere gezwungenermaßen
und nur die allerwenigsten erreichte die Bruderschaft überhaupt. Doch
zeigte sie, dass es Organisierungsformen gab, durch die die Vagabunden ihre
Würde und Subjektivität verteidigen wollten.
Im Jahr 1933 wurde die Bruderschaft der Vagabunden zerschlagen, Gog konnte
aus Deutschland fliehen. Nach 1945 fand sie keine direkte Fortsetzung.
Nicht nur ihre Tradition, sondern auch die Erinnerung daran wurden
zerstört. Das Buch hilft hoffentlich, dies zu ändern. Materialreich und in
Farbe erinnert der Band an das Leben und Wirken derer, für die das
„Unterwegssein“ einmal eine widerständige Praxis gewesen ist.
5 Aug 2020
## AUTOREN
Christopher Wimmer
## TAGS
Buch
Sachbuch
Geschichte
Weimarer Republik
Arbeitslosigkeit
Obdachlosigkeit
Hitler
Operette
DDR
## ARTIKEL ZUM THEMA
Buch über Berlin in 1930ern: Lebenswege zum Abgrund
In biografischen Porträts zeichnet der Germanist Peter Walther die Stimmung
in Berlin in Zeiten des politischen Untergangs nach – eine Mahnung.
Buch zur Berliner Theatergeschichte: Morgen geht’s uns gut
Sie galten als die Theaterkönige von Berlin und wurden als Juden verfolgt:
Fritz und Alfred Rotter. Von ihrem Leben erzählt der Autor Peter Kamber.
Ronald M. Schernikau wiederentdeckt: Optimistisch, trotz alledem
Autor Ronald M. Schernikau dachte schwule Identitätspolitik, Pop und
Klassenfragen zusammen. Jetzt wird er wieder gelesen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.