# taz.de -- Im Berliner Verkehr ist die Hölle los!?: Friede den Straßen | |
> Ein ebenso integrations- wie verkehrspolitischer Appell unserer Autorin. | |
> Die ist Autofahrerin – aber vor allem auch leidenschaftliche Fußgängerin. | |
Bild: Alltag auf Berlins Straßen: am Rosenthaler Platz | |
Verehrte Leser*innen, ich befasse mich nun seit mehr als 30 Jahren | |
beruflich und privat mit dem Thema Integration. In der Rückschau auf diese | |
jahrzehntelange Erfahrung kann ich Ihnen heute verraten, welche die am | |
schwersten in die Gesamtgesellschaft zu integrierende Minderheit ist. Sie | |
werden staunen: Es sind die Fahrradfahrer*innen. | |
Die Gründe sind vielfältig. Der erste: Radfahrer*innen betrachten sich | |
mehrheitlich als strukturell benachteiligt, also als Opfer – Opfer einer | |
ihnen feindlich gesonnenen Verkehrspolitik, Opfer einer angenommenen | |
„Mehrheitsgesellschaft“ in Form der Autofahrer*innen, gar als Opfer | |
gewaltsamer Vernichtungsfeldzüge jener. Der zweite, ebenso wichtige: | |
Viele Radfahrer*innen sind integrationsunwillig. Sie betrachten es als | |
unnötig, sich in den Gesamtverkehr zu integrieren, indem sie Verkehrsregeln | |
einhalten oder überhaupt nur erlernen. | |
Dazu kommt, drittens, eine häufige Neigung zu Regelverstößen, die – aus | |
Sicht der Integrationsforschung betrachtet – von Punkt eins, der | |
Opferhaltung, ausgelöst werden kann: Gibt mir die Gesellschaft meine Rechte | |
nicht, warum soll ich ihre achten? | |
Oder, wissenschaftlich formuliert: Dauernde (subjektive) Erfahrung von | |
Benachteiligung und Diskriminierung führt zum sogenannten Dominanzverhalten | |
– wie es übrigens die Berliner Polizei jüngst am Beispiel des | |
In-der-zweiten-Reihe-Parkens in ihrem Bericht über kriminelle arabische | |
Clans beschrieben hat – ebenfalls eine schwer integrierbare Minderheit, mit | |
der mich persönlich zumindest in einem Punkt mehr verbindet als mit meinen | |
vermutlich zu 99 Prozent radfahrenden taz-Kolleg*innen: Wir – also ich und | |
die kriminellen Clans – haben überhaupt kein Fahrrad. | |
## Starke Geschütze | |
Deshalb – also wegen der 99 Prozent – ist auch in taz-Texten und in | |
anderen Medien zum Thema Verkehr gern mal die Rede von einem „Krieg auf den | |
Straßen“ – eine Rhetorik, die Punkt eins, die „Opferhaltung“ (siehe: | |
„gewaltsame Vernichtungsfeldzüge“), entspringt, die aber, | |
integrationstechnisch betrachtet, Schaden anrichtet, weil sie – um in dem | |
Kriegsbild zu bleiben – Gräben schaufelt, Stellungen aufbaut, Feindschaften | |
beschwört, also starke Geschütze auffährt, statt friedliche Einigung | |
anzustreben. Um die es beim Krieg ja allerdings auch gar nicht geht, | |
sondern darum – und das gilt für beide Kriegsparteien, auch die, die sich | |
angegriffen fühlt –, am Ende die gegnerische Partei zu vernichten oder zu | |
unterwerfen. | |
Und die – also die Rhetorik –, auch das wissen wir aus der | |
Integrationsforschung, beim so zum Gegner und Feind gemachten Anderen Angst | |
auslöst: Er soll ausgemerzt, vernichtet werden, verschwinden – es kann am | |
Ende nur einer übrig bleiben, die anderen müssen weg. Wir kennen das etwa | |
aus der „Überfremdungs“-Rhetorik der AfD und anderer rechtsextremer | |
Organisationen. | |
Aber nun mal im Ernst: Leute! Gäbe es einen Krieg der Auto- gegen die | |
Radfahrer*innen – wie viele Verkehrstote hätten wir dann täglich in Berlin? | |
Es wäre mir – Sie ahnten es schon: Ich habe ein Auto! Was mich wiederum mit | |
in der zweiten Reihe parkenden Berliner*innen arabischer Herkunft, aber | |
auch (und das ahnten Sie nun nicht!) mit sehr vielen taz-Kolleg*innen | |
verbindet –, es wäre mir also ein Leichtes, täglich mehrere | |
Radfahrer*innen zur Strecke zu bringen, würde ich mich mit meinem Auto | |
in dieser Absicht auf die Straße begeben – eben wie ein Soldat im Krieg. | |
## Selbstmordattentäterhaft | |
Ich müsste mich nicht einmal anstrengen. Sie fahren mir ja von ganz allein | |
vors Auto! Im Gegenteil. Ich nehme für mich in Anspruch, schon einigen | |
Radfahrer*innen ihr Leben gerettet zu haben, die sich (auch das | |
integrationstheoretisch eine Reaktion auf als unerträglich empfundene | |
Entrechtung) selbstmordattentäterhaft quasi vor mein Auto geworfen haben – | |
gern nachts ohne Licht unter Missachtung der Rechts-vor-links-Regel. | |
Gern geschehen! Denn: Ich mag Radfahrer*innen. Ich finde es gut, dass immer | |
mehr Menschen, auch Lieferdienste, auf das Fahrrad umsteigen. Ich bin | |
begeistert von den neuen breiten Radwegen hinter den Parkstreifen für die | |
Autos. Ich plädiere vehement dafür, Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet | |
einzuführen – außer vielleicht auf den mehrspurigen Ausfallstraßen, die | |
tatsächlich gut gesicherte Radwege bekommen können –, wofür den Autos gern | |
Platz weggenommen werden kann. | |
Und ich erkläre gern, dass man das Auto in Berlin zwar in manchen Fällen | |
als das bequemste, niemals aber als das schnellste Verkehrsmittel | |
betrachten darf. Ich zuckele gern langsam hinter Radler*innen daher, wo | |
ich sie nicht mit dem nötigen Sicherheitsabstand überholen kann. Ich nehme | |
gern Rücksicht: Bitte sehr, Mitmensch! | |
Und ich erwarte das auch. Denn ich bin auch Fußgängerin – was mich sowohl | |
mit Mitgliedern krimineller Clans wie mit denen der taz-Redaktion verbindet | |
– und auch mit Ihnen, liebe Leser*innen! | |
## Integriert euch! | |
Und so sehr ich die Wut vieler Fahrrad- auf Autofahrer*innen verstehe, so | |
wenig leuchtet mir ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Fußverkehr ein. | |
Brettern Radler ohne zu bremsen in die an der grünen Fußgängerampel | |
losgehende Menschenmenge, halte ich das für einen Ausbruch aus der | |
subjektiv empfundenen Machtlosigkeit des selbsternannten Opfers: Ha, da | |
sind noch Schwächere als ich, denen zeig ich’s jetzt mal! Gern mache ich | |
auf dem Gehweg Eltern Platz, die auf Rädern ihre Kinder begleiten. Doch | |
rasen da behelmte Rennradler*innen an mir vorbei, werde ich sauer. | |
Ich verstehe einfach nicht, warum viele Radfahrer*innen nicht bereit sind, | |
Regeln einzuhalten: Wollen sie tatsächlich – unter Einsatz ihrer und | |
anderer Unversehrtheit – als Sieger*innen aus einem Krieg hervorgehen – | |
bei dem dann am Ende selbst der Fußverkehr ihren Interessen weichen muss? | |
Oder sind sie einfach blöd? (Ha, aber das sind doch nicht alle, werden Sie | |
jetzt sagen, das sind noch nur einige Übeltäter! Tja, antwortet Ihnen da | |
die Integrationsexpertin: Reden Sie darüber mal mit einem arabischstämmigen | |
Berliner.) | |
Womit wir wieder beim Thema Integration wären: Es ist vielleicht richtig, | |
die Utopie einer autofreien Fahrradstadt auf die politische Agenda zu | |
setzen. Doch noch sind wir weit davon entfernt – und müssen und sollten | |
(und können, meiner Ansicht nach) miteinander klarkommen. Also bitte: | |
Integriert euch, Radfahrer! | |
11 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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