| # taz.de -- Nachruf auf Schauspieler Michel Piccoli: Er hat sich immer neu ausp… | |
| > Seine Karriere als Filmstar begann spät. Doch der Franzose Michel Piccoli | |
| > hat wie kein anderer Schauspieler das europäische Autorenkino geprägt. | |
| Bild: Politisch war er links, das Affektierte verabscheute er: Michel Piccoli (… | |
| Es ist eine Ära, die mit dem Tod Michel Piccolis endet. Kein anderer | |
| Darsteller, keine Darstellerin hat den französischen, den europäischen | |
| Autorenfilm über Jahrzehnte geprägt wie Piccoli. Dabei ist der Schauspieler | |
| ins Kino erst nach und nach so richtig geraten. | |
| Seine große Passion war zunächst das Theater. Die Eltern waren Musiker, der | |
| Vater Violinist, die Mutter Pianistin, künstlerische Leidenschaft aber hat | |
| Piccoli bei beiden nicht gespürt. Die Begeisterung für die Schauspielerei | |
| entdeckte er während des Kriegs, danach nahm er in Paris Privatunterricht, | |
| klopfte an die Türen aller Theater, spielte viel an kleinen und mittleren | |
| Bühnen, Unterhaltungsstücke, aber auch Ionesco, Beckett. Manchmal waren, | |
| wie er in seinen Erinnerungen schreibt, die Reihen so spärlich besetzt, | |
| dass auf der Bühne mehr Leute waren als unten im Saal. | |
| Filmrollen kamen dazu, sie waren zunächst unbedeutend, ihm nicht so | |
| wichtig, wobei er durchaus herumkommt, erstaunlich etwa 1955 ein Auftritt | |
| im zweiten Teil von Kurt Maetzigs aufwendigem, von der Defa produzierten | |
| Ernst-Thälmann-Biopic. | |
| Aber noch 1961, da hat er schon in vierzig kurzen und langen Filmen und | |
| Fernsehproduktionen, fast stets in der zweiten oder dritten Reihe gespielt, | |
| fragt er den Regisseur Paul Vecchiali auf dem Set zu dessen Debüt „Les | |
| petits drames“ – das übrigens aus Geldmangel nie fertiggestellt wird –, … | |
| dieser seine Karriere einschätzt. „Welche Karriere?“, fragt Vecchiali. | |
| Rückfrage Piccoli: „Was soll ich deiner Meinung nach tun? Mit Godard | |
| drehen? Niemals!“ | |
| ## Unerwartet doch noch berühmt | |
| Zwei Jahre später: Piccoli auf Capri, neben Brigitte Bardot, einem der | |
| größten weiblichen Stars Frankreichs, neben Fritz Lang, der Regie-Legende, | |
| auf dem Dach der Casa Malaparte, [1][nun dreht er doch mit Godard. „Die | |
| Verachtung“] ist eine Zäsur der Filmgeschichte, Piccoli als der von Bardot | |
| verlassene Dramatiker plötzlich und unerwartet doch noch berühmt. Man | |
| zögert zu sagen: ein Star. | |
| Piccoli ist von nun an einer der identifizierbarsten Schauspieler im | |
| europäischen Kino, als Hauptdarsteller in Filmen von Buñuel bis Rivette, | |
| von Bellocchio bis Sautet, von Oliveira bis Angelopoulos. Er spielt neben | |
| Romy Schneider, mit der er bis zu ihrem frühen Tod eng befreundet sein | |
| wird, neben Catherine Deneuve und Anouk Aimée und Isabelle Huppert und dem | |
| jungen Depardieu und in Jacques Rivettes „Die schöne Querulantin“, einem | |
| seiner großartigsten Filme, als Maler, der Emmanuelle Béart taxiert, | |
| traktiert, malt. | |
| Er ist vielseitig, einer, der den Liebhaber spielen kann oder den Mörder, | |
| gefährliche, verführerische, verschlossene, verletzliche, verletzende und | |
| verletzte Männer, [2][gegen Ende seiner Karriere in Nanni Morettis „Habemus | |
| Papam“ auch den Papst], und zwar einen Papst, der zweifelt und vom | |
| Papstsein genug hat. Piccoli wird verehrt und bewundert von allen, die sich | |
| für das Autorenkino interessieren, Männern wie Frauen – ein Star wie | |
| Belmondo oder Delon oder, in Hollywood, Redford oder Newman war er in | |
| einem bestimmten Sinn dennoch nicht. | |
| ## Er war zu neugierig, zu wagemutig | |
| Stars kultivieren eine Persona, die sie von Rolle zu Rolle übertragen, so | |
| unterschiedlich die Rollen sein mögen: Man liest bei jedem ihrer Auftritte | |
| die Geschichte dieser Persona mit. Zu einer solchen Verfestigung ist es bei | |
| Piccoli nicht wirklich gekommen. Dafür war er zu neugierig, zu wagemutig, | |
| zu sehr davon getrieben, Neues zu versuchen, unbekanntes Terrain zu | |
| erobern. Er schreckte vor nichts zurück, war zu wandelbar, noch als „Don | |
| Juan“, den er in einer ungeheuer erfolgreichen Fernsehversion von Molières | |
| Stück spielte, eine nicht geheure Figur. | |
| Das gab es natürlich, Piccoli auf Filmpostern, vermutlich auch an der Wand | |
| mancher Fans, aber es war doch nie in erster Linie Piccoli, der da verehrt | |
| wird, sondern die Aura des Films, des Regisseurs, der Figur, die er spielt, | |
| oder des weiblichen Stars neben ihm. | |
| Ins kollektive Gedächtnis der Kinogänger eingegangen ist er als der | |
| undurchsichtige Mann, mit dem Catherine Deneuve in Buñuels „Belle de Jour“ | |
| von Sex fantasiert, als der Architekt, der in Claude Sautets Melodram | |
| „Choses de la vie“ mit seiner Geliebten auf und davon will, als einer der | |
| vier Männer, die sich in Marco Ferreris „Das große Fressen“ am Wochenende | |
| in einer Villa einschließen, um sich zu Tode zu fressen. | |
| ## Ein Film, den er fast allein trägt | |
| Ferreri ist heute ziemlich vergessen, in Piccolis Erinnerungen spielt er | |
| eine wichtige Rolle. Die erste Zusammenarbeit zwischen den beiden, | |
| „Dillinger est mort“, ist sicher einer der rätselhaftesten Filme, in denen | |
| Piccoli mitgespielt hat. Es ist ein Film, den er fast allein trägt und der | |
| zeigt, dass man Piccoli bei allem, was er tut, fasziniert zusehen muss, | |
| auch wenn die meiste Zeit nichts weiter geschieht. Piccoli kocht, denkt | |
| nach, langweilt sich, obwohl oben das berühmte Model Anita Pallenberg nackt | |
| im Bett liegt. | |
| Er führt sich alte Super-8-Filme vor, macht Faxen dabei, findet einen | |
| Revolver im Schrank, spricht fast nicht, hat aber eine ungeheure Präsenz, | |
| und zugleich weiß man in keinem Moment, wen man da vor sich hat. Man traut | |
| diesem Mann alles zu, wie man Piccoli in seiner Rollenwahl immer alles | |
| zutrauen konnte, und das, wie sich zeigte: völlig zu Recht. | |
| Dass Piccoli nicht mehr ganz jung war, als er berühmt wurde, war wichtig | |
| für sein Profil. Er war attraktiv, sehr sogar, über Jahrzehnte, aber nie | |
| der jugendliche Liebhaber, immer eine vertrackte, oft eine ins moralisch | |
| Dubiose schillernde Figur. Ein Mann mit viel Körper, mächtiger, reichlich | |
| behaarter Oberkörper, man sieht ihn oft nackt, später dann massig, die | |
| Haare zusehends zurücktretend von einer Stirn, der diese wachsende | |
| Prominenz bestens bekommt. | |
| ## Getrieben von der Leidenschaft, ein Anderer zu sein | |
| Der Vorzug der Piccoli’schen Art von Berühmtheit: Man kann mit ihr bestens | |
| altern. In den Achtzigern kehrte Piccoli auf die Bühne zurück, nachdem er | |
| das Theater zugunsten seiner zweiten Liebe lange vernachlässigt hatte. | |
| Er spielte bei Peter Brook und Robert Wilson, trat in Patrice Chéreaus | |
| berühmten Inszenierungen der Skandalstücke von Bernard-Marie Koltès auf und | |
| blieb zugleich dem Kino treu, er hatte bis in die frühen zehner Jahre | |
| weiter wichtige Rollen bei Louis Malle oder Léos Carax und Alain Resnais. | |
| In Agnès Vardas Hommage an das Kino zu dessen hundertstem Geburtstag, „Les | |
| cent et une nuits de Simon Cinéma“, war er gar Simon Cinéma, Verkörperung | |
| der Geschichte des Kinos höchstselbst. | |
| Seine höchst lesenswerten Erinnerungen – eigentlich ein kurzer Briefwechsel | |
| mit dem langjährigen Cannes-Präsidenten Gilles Jacob – zeigen einen Mann, | |
| dem alle Prätention fremd ist, der das Affektierte verabscheut. Kein | |
| Intellektueller, politisch immer links, aber nie Aktivist, getrieben vor | |
| allem von der unbändigen Leidenschaft, sich auszuprobieren, immer ein | |
| Anderer zu sein und zu werden, ohne sich selbst dabei sehr wichtig zu sein. | |
| „Es gab nur eins für mich: entdecken, entdecken und lernen, nie zweimal | |
| dasselbe zu machen.“ Das Tiefgründige hat er in den Rollen gefunden, im | |
| Spiel, in den von ihm verkörperten Fantasien und Träumen seiner Regisseure. | |
| Sein großes Unglück im Alter: Das Gedächtnis lässt nach, er hätte auch mit | |
| neunzig Jahren am liebsten immer weitergemacht, es ging dann nicht mehr. | |
| Der letzte Satz in seinen Erinnerungen, was könnte man Schöneres sagen über | |
| das eigene Leben: „Am liebsten würde ich niemals sterben.“ | |
| 19 May 2020 | |
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| Ekkehard Knörer | |
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