# taz.de -- Nachruf auf Regisseur Jacques Rivette: Die Welt als Probebühne | |
> Kaum ein Filmemacher war so offen für die Inspiration der | |
> Darstellerinnen: Zum Tod des französischen Regisseurs Jacques Rivette. | |
Bild: Jacques Rivette im Jahr 1991. | |
Julie sitzt auf der Bank in einem Park in Paris. Sie liest ein Buch über | |
Magie, da eilt Céline vorbei, sie lässt etwas zu Boden fallen und es | |
beginnt eine Verfolgung, die eine Verführung ist, eine spielerische Jagd | |
hoch nach Montmartre, dann eine langsame Annäherung der beiden Frauen. | |
So beginnt eine Geschichte, die von „Céline und Julie fahren Boot“, Jacques | |
Rivettes vielleicht schönstem Film. Es ist eine eigentümliche Geschichte, | |
eine, die immer wieder an ihren Anfang springt, eine Geschichte, in der | |
sich alles als bloße Setzung erweist. Nicht nur das Kennenlernen vollzieht | |
sich wie ein ritualisiertes Spiel, am Ende wird sich der Kreis schließen, | |
Céline wird auf der Bank sitzen und Julie hastet vorbei. | |
Die Dinge im Fluss zu zeigen, das war die große Kunst Jacques Rivettes. Das | |
Leben als Spiel zu inszenieren, als Improvisation, als fortwährende | |
Kollaboration und Konfrontation und Konfabulation zwischen Individuum und | |
Gruppe, aber auch zwischen Regie, Kamera, Darstellerinnen, Buch und dem | |
umgebenden Raum. | |
Dabei war Rivette bei aller Liebe zum Spielerischen ein intellektueller | |
Regisseur, wenn es je einen gab, aber es fehlte, anders als etwa dem Freund | |
und Mitstreiter Jean-Luc Godard, seinem Intellekt alle Bösartigkeit, es | |
fehlte das Besserwissen und das Streberhafte und das explizit und | |
überdeutlich Politische. | |
Dabei war es ja Rivette, der, mit ausdrücklichem Hinweis auf Godard, einen | |
der berühmtesten Sätze zum Verhältnis von Politik und Film schrieb, 1961, | |
in den Cahiers du Cinema, über Gillo Pontecorvos Konzentrationslagerfilm | |
„Kapo“: „Sehen Sie sich in Kapo die Einstellung an“, heißt es da, „i… | |
Riva sich umbringt, indem sie sich in den elektrischen Stacheldraht stürzt; | |
der Mensch, der sich in diesem Augenblick zu einer Kamerafahrt vorwärts | |
entschließt, um den Kadaver in Aufsicht zu rekadrieren, wobei er es sich | |
angelegen sein lässt, die erhobene Hand in einem bestimmten Winkel seiner | |
endgültigen Kadrage zu fixieren, für diesen Menschen kann man nur tiefste | |
Verachtung empfinden.“ | |
## Seltsam unsichtbarer Ruhm | |
Die Politik des Filmischen war für Rivette, davon spricht dieses Verdikt, | |
notwendig gegründet auf eine Ethik der Darstellung. Worauf es ihm selbst | |
immer ankam, war Bewahrung des Lebendigen, Widerstand gegen jede Fixierung, | |
ständige Bewegung in einem immer offenen, immer sich neu öffnenden | |
Möglichkeitsraum. Kaum ein Regisseur war je so wenig Diktator, kaum einer | |
so offen für das Tun und die Inspiration und Improvisation der – zumeist – | |
Darstellerinnen und KoautorInnen, aber auch seines regelmäßigen Kameramanns | |
William Lubtchansky. | |
Nur auf den ersten Blick erstaunt dabei die große Affinität von Rivettes | |
Kino zum Theater. Wieder und wieder suchen seine Filme das Theatermilieu, | |
wieder und wieder zeigen sie Schauspielgruppen bei den Proben, als Spiel, | |
als Streit, als Aushandlung. Wenn in Rivettes Filmen die Welt eine Bühne | |
ist, dann eine, auf der nie eine fertige Inszenierung, sondern immer nur | |
deren Entstehen zu sehen ist. | |
Wie Godard, Rohmer, Truffaut und Chabrol gehörte der 1928 in Rouen geborene | |
Rivette von Anfang an zum engsten Kern der Pariser Nachkriegs-Cinephilie, | |
aus dem erst die legendären Cahiers du Cinéma und dann die Filme der | |
Nouvelle Vague hervorgingen. Rivette war einer der brillantesten Kritiker | |
der Zeitschrift, geriet in Konflikt mit dem Konservativen Eric Rohmer und | |
war ab 1963 zwei Jahre lang ihr Chefredakteur. | |
Als Regisseur stand Rivette von Anfang an für die breitere Öffentlichkeit | |
im Schatten seiner Mitstreiter. Zwar hatte er als zweiter nach Chabrol, | |
1958 nämlich, einen Langfilm zu drehen begonnen, „Paris gehört uns“. Die | |
ironische Pointe war nur, dass in Truffauts Erstling „Sie küssten und sie | |
schlugen ihn“ die Familie ins Kino geht, um diesen in Wahrheit wegen | |
Geldproblemen noch gar nicht fertiggestellten Rivette-Film zu sehen. In dem | |
übrigens Jean-Luc Godard mitspielt, dessen „Außer Atem“ mehr sogar noch a… | |
Truffauts Debüt Epoche machte, während Rivettes auf ganz andere Art | |
faszinierender Erstling wenig Aufmerksamkeit fand. | |
## Keine guten Gründe für mangelnde Popularität | |
In den späten Sechzigern und frühen Siebzigern entstanden mit “L’amour | |
fou“, „Out 1“ und „Céline und Julie fahren Boot“ jene Filme, die Riv… | |
Ruhm begründeten. Einen Ruhm allerdings, der bis heute seltsam unsichtbar | |
ist; sogar „Céline und Julie“ von 1974, ein Film, der auf kaum einer | |
Bestenliste der Filmgeschichte fehlt, ist hierzulande nicht gerade allseits | |
bekannt. | |
Für die mangelnde Popularität gibt es viele, nur keine guten Gründe. Zum | |
einen sind bei Rivette Handlung und Plot niemals der Dollpunkt. Oft sieht, | |
was geschieht, aus, als würde es gerade im Geschehen verfertigt. Wieder und | |
wieder drehen sich ganze Filme, „Céline und Julie“ ebenso wie „An der | |
Nordbrücke“ (1981) um die Suche nach Spielregeln fürs Weitermachen, statt | |
sich nach den Regeln strikter Drehbuchdramaturgien von geschürzten Knoten | |
zu deren Auflösung zu bewegen. | |
Typischerweise gibt es in Rivette-Filmen einen vagen, nie wirklich sich | |
aufklärenden Verschwörungshintergrund. Ersatzweise Götter und/oder Magie. | |
Gerade dieses Hereinragen von etwas, das dem Geschehen bis zuletzt als | |
Andeutung eines Zusammenhangs äußerlich bleibt, macht die offenen | |
Strukturen, das zentrumsfreie Spiel und Zusammenspiel als Handlungsprinzip | |
überhaupt möglich. Stets geht es viel mehr darum, überhaupt etwas zu | |
setzen, um dann zu sehen, was daraus wird. Nicht die Intrige interessiert, | |
sondern der Umgang mit ihrer Möglichkeit. | |
Es kommt – vielmehr es gehört notwendig – dazu: Die Filme Jacques Rivettes | |
sind im Vergleich immer recht lang. Heraus ragt dabei das ursprünglich fürs | |
französische Fernsehen gedrehte, von diesem aber brüsk zurückgewiesene | |
Dreizehnstundenwerk „Out 1“, in dem eine Gruppe eng und lose verbundener | |
Theatermenschen sich wie ein hochkompliziertes Mobile durch Paris bewegen | |
und, sehr frei nach Balzac, Teil einer großen Verschwörung sind oder auch | |
nicht. In „Céline und Julie fahren Boot“ erfinden sich zwei Frauen, sehr | |
gleichberechtigt mit Buch und Regie, eine richtige Räuberpistole, die sich | |
als Henry-James-Verfilmung in einem rätselhaften Haus dann tatsächlich | |
abspielt. Sie lutschen am Lutscher, sie kucken zu wie im Kino und zuletzt | |
greifen sie in die Geschichte ein, die sich längst verselbständigt hat. | |
Klingt nach einem labyrinthischen Spiegelkabinett? Gewiss, das sind | |
Rivettes Filme immer auch, aber doch auf höchst unanstrengende, sogar | |
euphorisierende Weise. | |
## Beglückende Werke | |
Ein Comeback in der größeren Filmöffentlichkeit erlebte Jacques Rivette mit | |
„Die schöne Querulantin“ Anfang der neunziger Jahre. Man sieht, frei | |
wiederum nach Balzac, Michel Piccoli als Maler, der dem nackten Körper und | |
dem eisernen Willen Emmanuelle Béarts ein Meisterwerk abzuringen versucht, | |
das bis zuletzt unbekannt bleibt. Dieser Film, von dem eine Vier- und eine | |
Zweistundenversion existiert, brachte den Namen Rivette wieder in Umlauf. | |
Es folgten weitere beglückende Werke wie das Musical „Vorsicht, | |
zerbrechlich!“ oder die Geistergeschichte „Geschichte von Marie und | |
Julien“, mit der der Regisseur ein in den Siebzigern abgebrochenes Projekt | |
wiederaufnahm. Als federleichter Epilog zum Werk entstand mit „36 vues du | |
Pic Saint-Loup“ sein kürzester Film. Eine Zirkuserzählung mit Clowns, eine | |
Meditation über Erinnerung, Liebe, Alter und Abschied. Wie auch Rohmers | |
letzter Film „Les amours d’Astrée et de Céladon“ eine in der Distanz von | |
Paris entstandene Pastorale. | |
Und wie bei Rohmer ein schwereloser Schlussstein ohne falsche Versöhnung, | |
ein Rivette-Film in nuce, des einzigartigen Werks dieses Regisseurs sehr | |
würdig. Am Freitag ist Jacques Rivette im Alter von 87 Jahren gestorben. | |
29 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Ekkehard Knörer | |
## TAGS | |
Filmregisseur | |
Film | |
KZ | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Schauspieler Michel Piccoli: Er hat sich immer neu ausprobiert | |
Seine Karriere als Filmstar begann spät. Doch der Franzose Michel Piccoli | |
hat wie kein anderer Schauspieler das europäische Autorenkino geprägt. | |
Doku über nie gezeigten KZ-Film: Bedrohliches Lachen | |
Die ARD-Doku „Der Clown“ nähert sich der unveröffentlichten Tragikkomödie | |
„The Day The Clowns Cried“ von Jerry Lewis. | |
Dokumentarfilm über Godard und Truffaut: Godard dreht weiter Filme | |
Der Dokumentarfilm "Godard trifft Truffaut - Deux de la Vague" von Emmanuel | |
Laurent und Antoine de Baecque erzählt Filmgeschichte als Familiendrama. | |
Jean-Luc Godard zum 80. Geburtstag: Revolutionär des Kinos | |
Regisseur Jean-Luc Godard wird 80. Zusammen mit François Truffaut steht er | |
für die "Nouvelle Vague" im Kino, für die Revolution des Schnitts. Eine | |
Würdigung. | |
Interview zum Holocaust im Film: "Filme vereinfachen, das macht nichts" | |
Von "Inglourious Bastards" bis "Shoah": In Berlin beginnt ein Symposium | |
über die filmische Erinnerung an den Holocaust. Ein Gespräch mit der | |
Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan. |