# taz.de -- Corona am Mehringplatz in Berlin: Schlumpfeiszeit ade | |
> Trotz Corona und prekärer Verhältnisse leben am Mehringplatz Nachbarinnen | |
> und Nachbarn respektvoll Tür an Tür. Doch Wut keimt auf. | |
Bild: Der Mehringplatz – vor der Baustelle, vor Corona | |
BERLIN taz | Ende April. Wieder einer dieser Seuchentage. 19 Uhr, | |
Abendsonne wärmt, die Gesichter von Freunden im Bildschirm. Wir prosten uns | |
zu. Plötzlich bricht Höllenlärm los unterm Balkon. Sirenen nähern sich, | |
aufgehetztes Hundegebell und Schreie aus vielen Hälsen, laute Flüche. | |
Sprachgewirr. | |
Der Blick hinunter auf die kleine Fußgängerzone, wo sonst eine | |
Menschenschlange träge dem Supermarkt entgegenkriecht, fällt auf | |
Streifenwagen, ein Zivilfahrzeug, eine große Wanne, Polizisten in voller | |
Montur. Die Hundeführer treiben ihre Tiere in eine Gruppe von Teenagern. | |
Ich kenne diese Jugendlichen. Sie sind jede Nacht lauter geworden. | |
Enthemmter auch. Sind mit geklauten Fahrrädern rumgefahren, prahlend und | |
Passanten provozierend. Haben mit den angerückten Beamten Räuber und | |
Gendarm gespielt. | |
Doch die plötzliche Übermacht erschreckt. Erstickt. Rasch bildet sich eine | |
protestierende Menge. Frauen schreien die Polizisten an. Männer erheben die | |
Fäuste. Da kommt der Notarztwagen. Die Jäger schnappen zu. Wird der Junge | |
verhaftet? | |
## Stilles Starren | |
Sein Kumpel schreit die Balkone an, droht: „Wer von euch hat die Bullen | |
gerufen, hä?“ Die anderen rennen. Wohin? Stilles Starren von den Balkonen. | |
Selbst der Hund nebenan, ein ewiger Kläffer, schweigt. Nachts wird er | |
winseln. | |
Freitagabend in Berlin am südlichen Ende der Friedrichstraße – dem Ende, | |
das in keinem Reiseführer Erwähnung findet. Hier, wo die Amüsiermeile | |
früher vom Zeitungsviertel der Stadt auf den prächtigen | |
Belle-Alliance-Platz führte, formen nun Wohnbauten der späten sechziger | |
Jahre den heutigen Mehringplatz. | |
Die meisten Geschäfte standen schon vor der Pandemie leer. Monatelang war | |
die Straße aufgerissen, wegen Tunnelarbeiten. Gab es Lärm und Dreck für | |
alle. In den Häusern drum herum Platz für Tausende Menschen. Eine spezielle | |
Berliner Mischung: Die Lebenslinien der Bewohner der Stadtschlucht, die – | |
je nach Blickrichtung – zum Halleschen Ufer oder zum Checkpoint Charlie | |
führt, sind von Kriegen, Konflikten und Katastrophen gebrochen. | |
Ehemalige, zumeist jüdische Bürger des zerfallenen Sowjetreichs, in den | |
Achtzigern aus der DDR Getürmte, Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien oder | |
Syrien, Kurden, Türken, große Familien, viele Rentner und einzelne aus | |
ihren Altbauwohnungen weggentrifizierte Kreativarbeiter. | |
## Nicht mal grün | |
Verletzlichkeiten sind hier vielfältiger, sichtbarer als anderswo, | |
Selbstgewissheit ist keine Währung. Man trifft sich im Theodor-Wolff-Park, | |
auf den Bänken im Rondell um den Mehringplatz, in der Schlange bei Edeka. | |
Der zentrale Platz ist eine Dauerbaustelle, gesperrt und unpassierbar. | |
Hinter Gittern, nicht mal grün. Kinder haben Virentiere auf das Pflaster | |
gemalt. Ohne Augen. Ohne Mund und Ohren. | |
Der Betreiber des Zeitungskiosks, bei dem sich die Trinkerszenen | |
versorgen, verkauft deutlich mehr Zigaretten, wie er sagt. Die wurden sonst | |
in Einkaufsgemeinschaft aus Polen rangeschafft. Bis das Virus dem ein Ende | |
machte. Das letzte Monatsdrittel war immer schon zäh für die meisten. Nun | |
ist es schlimmer. Alle Zufluchtsorte, Kinder- und Jugendeinrichtungen, | |
Seniorentreff, [1][Kiezstube] sind dicht. Wohin? | |
Die aufkeimende Wut ist gut zu hören. Täglich wird es lauter hinter den | |
Wohnungstüren. Zum Glück gibt es Balkone. Unter ihnen jedoch hat sich der | |
Tonfall verändert, bei Hunden und Menschen. Der Bettler an seinem | |
Stammplatz ist Ziel nicht nur verbaler Ausfälle. Der geschrumpfte | |
öffentliche Raum wird zum Gefahrenort. | |
Die alte Nachbarin traut sich nach Sonnenuntergang nicht mehr raus. Aber am | |
meisten fürchtet sie sich, krank zu werden. [2][Masken] trägt ja kaum | |
einer. Woher bekommen? Der Wachschutz der Wohnsiedlung ist eingestellt. Sie | |
vermisst die Männer. | |
## Freiwillige Isolation | |
Ich erlebe das alles viel intensiver als früher, weil ich mich seit Wochen | |
freiwillig zu Hause isoliere. Die meisten Nachbarn kamen schon vor Corona | |
kaum aus dem Viertel raus. Den Teenagern, die da unter mir durchdrehen, | |
begegnete ich zum ersten Mal bei meinem Einzug. Ein wilder Haufen, | |
Dreikäsehochs noch, Ball dabei und hilfsbereit. Sie schleppten meinen | |
Schreibtisch in den Fahrstuhl. | |
Dann die entscheidende Frage: „Haben Sie Kinder?“ Mist. Die Suche für das | |
Fußballteam würde weitergehen müssen. Zwei Sommer später stolzierten die | |
Jungs breitbeinig vor dem Dönerrestaurant auf und ab. Doch die Mackerpose | |
zerbrach am Eisangebot: „Alter, die haben Schoki!“ „Ich will lieber | |
Schlumpf.“ Im Jahr darauf machte Yildiz dicht. Von da an hingen sie kiffend | |
in einer Tordurchfahrt ab und grüßten nicht mehr. | |
Die, die nun auf dem Sportplatz gegen Bälle dreschen, sind wie sie damals – | |
und auch nicht. Im Vorbeilaufen höre ich den Kleinsten warnen: „Wir Araber | |
müssen zusammenhalten. Die Deutschen mögen uns nicht.“ | |
Unsicherheiten im Miteinander waren schon vor der Pandemie spürbar. Doch | |
die alte Gelassenheit fehlt. Die Grüppchen im Park blicken skeptischer | |
aufeinander. Oder bin ich das? Ich habe begonnen, die Straße zu beobachten. | |
Es gibt teure Autos, die anhalten und von der Schlumpfeis-Gang umlagert | |
werden. Die Insassen bleiben sitzen, doch sie geben der Gruppe etwas mit. | |
Nichts, was man greifen kann. Nebenan geraten die Trinker in Streit. Ein | |
riesiger Hund jagt durch die Menge hindurch einer Papiertüte hinterher. | |
## Die geilste Gang | |
Als die Polizei an jenem Freitag wieder abrückt, läuft eine besorgte Mutter | |
den Beamten hinterher. Wie das weitergehen soll? „Dit is in der janzen | |
Stadt so“, erklärt einer der Männer und macht keinen Hehl aus seiner | |
Ratlosigkeit. „Wir sind die geilste Gang!“, schreit ein Mädchen in den | |
Kiezhimmel. | |
Allen pandemiebedingten Unzumutbarkeiten, den Dauerbaustellen und prekären | |
Verhältnissen zum Trotz leben hier Nachbarinnen und Nachbarn respektvoll | |
Tür an Tür. Das kostet manchmal viel Kraft. Wer mehr hat, muss mehr geben. | |
Ich bin ein Teil von Etwas. | |
Gestern landete ein Rettungshubschrauber unten im Park. Als er in die | |
Wolken stieg, schauten wir ihm – schweigend – lange nach. | |
3 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Homeless-in-Berlin/!5680266 | |
[2] /Berliner-Senat-zieht-nach/!5678779 | |
## AUTOREN | |
Manja Präkels | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Utopie nach Corona | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Berlin-Kreuzberg | |
IG | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
soziale Ungleichheit | |
Schwerpunkt Utopie nach Corona | |
Elke Breitenbach | |
Maske | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Berlins verarmte Kieze: Die Zukunft ist eine Baustelle | |
Der Mehringplatz ist einer der ärmsten Kieze Berlins, besonders die Jugend | |
hat hier wenig Perspektive. Viele fühlen sich von der Politik vergessen. | |
Südliche Friedrichstadt und Mehringplatz: Das vergessene Quartier | |
Der Mehringplatz ist das ärmste Viertel in Berlins Mitte. Autorin Manja | |
Präkels schaut dort seit Jahren dem städtischen Gefüge beim Zerbrechen zu. | |
Globale Ungleichheit nach Corona: Zukunftsdenken ist Luxus | |
In Deutschland träumen viele von einer besseren Welt nach der Coronakrise. | |
Für die Ärmsten im globalen Süden wird danach alles nur noch schlimmer. | |
Homeless in Berlin: Corona hilft gegen Obdachlosigkeit | |
400 Wohnungslose werden ab Mai rund um die Uhr untergebracht. Auch eine | |
Obdachlosen-Lotsen-Taskforce wird eingerichtet. | |
Berliner Senat zieht nach: Masken auf beim Brötchenkauf | |
Als letztes Bundesland beschließt Berlin eine Maskenpflicht in Läden. Sie | |
gilt ab Mittwoch. In Bus und Bahn tragen laut Senat fast alle Mundschutz. |