# taz.de -- Sexuelle Minderheiten in Ungarn: Die transfeindliche Autokratie | |
> Im Windschatten repressiver Coronagesetze treibt Ungarns Premier Orbán | |
> die Demütigung von trans Menschen voran. EU-Abgeordnete protestieren. | |
Bild: „Ich akzeptiere Dich“: Klare Ansage bei der Budapest Pride im Jahr 20… | |
Krisztina Orbán, 43, lebt in einer kleinen Stadt mitten in Ungarn und | |
arbeitet für die NGO Transvanilla, die sich für trans Menschen einsetzt. | |
Schon seit Jahren versucht Krisztina auf deren Situation in Ungarn | |
aufmerksam zu machen. Krisztina ist selbst trans und identifiziert sich als | |
nicht-binär, also weder als Mann noch als Frau. Den Geschlechtseintrag auf | |
offiziellen Papieren konnte Krisztina nie ändern, weil diese Möglichkeit | |
für nicht-binäre Menschen bisher nicht bestand. Und in diesen Tagen ist die | |
Situation noch einmal verschärft worden. | |
„Als ich von dem neuen Gesetzentwurf gehört habe, habe ich minutenlang | |
still in meinem Auto gesessen“, erzählt Máté, 41, aus Budapest beim | |
Videocall-Interview. Er ist trans und heißt eigentlich anders, möchte aber | |
lieber anonym bleiben. Der Gesetzentwurf, von dem er spricht, wurde von der | |
ungarischen Regierung am 31. März vorgestellt. Er sieht vor, dass beim | |
Standesamt und auf amtlichen Dokumenten nur noch das „Geschlecht bei | |
Geburt“ vermerkt werden darf. Das würde ein Ende der rechtlichen | |
Anerkennung von trans Personen bedeuten, denn so wäre es ihnen unmöglich, | |
Namen oder Geschlecht zu ändern. Máté konnte sich minutenlang nicht | |
bewegen, als er davon hörte. Er war schockiert. „Ich dachte nur: Das können | |
sie nicht machen, so kann ich nicht weiterleben.“ | |
Máté hat sich 2018, mit 39 Jahren, als trans geoutet und lebt seither offen | |
als Mann. Vor seinem Outing war er nicht glücklich. Er habe getrunken, | |
Drogen genommen und hatte Suizidgedanken. „Ich konnte lange nicht | |
beschreiben, was mit mir los ist, und wusste nichts von Transidentität“, | |
sagt er. In offiziellen Dokumenten konnte er seinen Geschlechtseintrag noch | |
nicht ändern, obwohl er bereits im Oktober 2018 einen Antrag stellte. Seit | |
etwa zwei Jahren ist es in Ungarn aber de facto nicht mehr möglich, den | |
Geschlechtseintrag zu ändern, [1][die Behörden setzen das Verfahren nämlich | |
aus]. | |
Dass Mátés Geschlechtsidentität nicht anerkannt wird, führt immer wieder zu | |
Problemen, sobald er sich irgendwo ausweisen muss. Bei Terminen bei der | |
Bank wird er misstrauisch angeschaut, seine Identität in Frage gestellt und | |
erst kürzlich wollte ihm eine Anwältin bei einem Termin nicht glauben, dass | |
er die Person auf seinem Ausweis ist. Kein Wunder, sagt er, denn darin | |
stehe, dass er eine Frau sei, obwohl er dem Augenschein nach ein Mann ist. | |
„Ich kann so nicht mehr weitermachen.“ | |
## Sondervollmachten wegen Corona | |
Das mediale Echo auf den Gesetzentwurf fiel nicht besonders groß aus – | |
auch, weil es [2][im Schatten des neuen Corona-Notstandsgesetzes | |
eingereicht wurde]. Dieses neue Gesetz stattet Orbán mit sehr viel mehr | |
Macht als vorher aus. [3][Während der Pandemie regiert er nun per Dekret], | |
und zwar ohne zeitliches Limit – auch wenn das Parlament auf unbestimmte | |
Zeit in Zwangspause geschickt werden würde. Volksabstimmungen und Wahlen | |
sind damit ebenfalls auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Im Gesetz sind | |
außerdem hohe Haftstrafen für die [4][Verbreitung von Falschmeldungen und | |
Verstöße gegen die Quarantäneauflagen vorgesehen]. | |
Die Opposition versuchte zwar noch einen Fristablauf im Gesetz zu verankern | |
und war dafür sogar bereit, einen Notstand von 90 oder 120 Tagen zuzulassen | |
– allerdings ohne Erfolg. Eine Zweidrittelmehrheit fand Orbán mit den | |
Regierungsparteien auch ohne Opposition, der er nun mangelnden Patriotismus | |
vorwirft. Das Parlament, das Orbán zu großen Teilen den Rücken stärkt, | |
entscheidet auch darüber, wann die Gefahrenlage wieder vorbei ist. Niemand | |
könne schließlich aktuell sagen, wie lange die Krise anhalte, sagt Orbáns | |
Staatssekretär Csaba Dömötör. | |
Kritikerinnen und Kritiker werfen der Regierung vor, die weltweite | |
Aufmerksamkeit für die Coronakrise auszunutzen, und der Ombudsmann des | |
Parlaments, Jenő Kaltenbach, bestätigte, dass die ersten Erlasse nach | |
Orbáns [5][Ermächtigung nicht alle mit der Krise zu tun hatten]. Die | |
unabhängige Abgeordnete Bernadett Szél beschreibt den transfeindlichen | |
Gesetzentwurf als Rückschritt. Sie versuchte im Justizausschluss im | |
Parlament einen Brief von trans Menschen über die befürchteten Probleme des | |
Gesetzes zu verlesen, wurde aber vom Vorsitzenden daran gehindert – der | |
Brief sei nicht relevant. Szél versteht nicht, wieso sich die Regierung | |
während einer Pandemie nicht um das Gesundheitssystem und um die | |
finanzielle Unterstützung der Menschen kümmere. „[6][Das, was in Ungarn | |
passiert, ist ein Skandal“, sagte sie]. | |
Das sehen auch 36 Abgeordnete des EU-Parlaments so, die sich am 15. April | |
in einem Brief an die ungarische Regierung wandten. Darin wiesen sie auf | |
eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs hin, nach dem | |
trans Menschen ein Recht auf die Anerkennung ihres Geschlechts haben. In | |
dem Brief wurde auch eine Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichts | |
[7][vom Juni 2018 erwähnt, das die Namensänderung als Grundrecht für trans | |
Menschen sieht]. | |
Máté macht sich derweil große Sorgen, dass der Gesetzentwurf Wirklichkeit | |
wird. Er befürchtet, dass er mit dem neuen Gesetz Probleme bekommen könnte, | |
seine Hormone verschrieben zu bekommen. Welche Auswirkungen das Gesetz | |
haben könnte, sei nämlich noch nicht bekannt. Deshalb denke er darüber | |
nach, auszuwandern, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob sich all die | |
Probleme in einem fremden Land lösen würden. Schließlich habe er ungarische | |
Dokumente und Papiere mit dem falschem Geschlechtseintrag. „Noch habe ich | |
aber die Hoffnung, dass ich in Ungarn bleiben kann.“ | |
Der aktuelle Gesetzentwurf zum Geschlechtseintrag ist nicht der erste | |
Versuch, queeres Leben in Ungarn unsichtbar zu machen. Nachdem Orbáns | |
Regierung 2013 Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz in der | |
Verfassung einschränkte, ließ sie in die Verfassung eintragen, dass | |
kinderlose, unverheiratete oder gleichgeschlechtliche Paare rechtlich | |
[8][nicht mehr als Familien anerkannt werden]. Zwei Jahre später, 2015, | |
verhinderten Ungarn und Polen eine EU-Vereinbarung, die bürokratische | |
Hürden für im Ausland lebende verheiratete und verpartnerte Paare abbauen | |
sollte. Der Grund für die Ablehnung: Das Gesetz sollte auch für | |
homosexuelle Paare gelten. | |
[9][2018 ließ die Regierung das Fach Gender Studies von der Liste | |
zugelassener Studiengänge in Ungarn streichen]. Das Studienfach wurde schon | |
häufig von Regierungsvertretern angegriffen, weil es das Fundament der | |
christlichen Familie untergraben wolle und Geschlecht nun mal biologisch | |
determiniert sei. Im Februar 2020 beklagte Orbán in einem Brief an die | |
Europäischen Volkspartei (EVP), dass sie der Genderideologie zum Opfer | |
gefallen sei und das heterosexuelle Familienmodell aufgegeben habe. | |
## Gefühlt aussichtslose Situation | |
Nachdem nun der transfeindliche Gesetzentwurf eingereicht wurde, reagierte | |
Krisztina Orbán von Transvanilla zunächst mit einer Onlinepetition gegen | |
das Gesetz, für die bereits mehr als 20.000 Unterschriften gesammelt | |
wurden. Dass die Europäische Union nichts gegen die ungarische Regierung | |
macht, kann Krisztina nicht verstehen, immerhin verletze das Land seit | |
Jahren EU-Recht: „Es scheint fast so, als könne ein Land machen, was es | |
möchte, sobald es einmal aufgenommen wurde.“ | |
Krisztina fühlt oft nichts mehr, die Situation sei zu aussichtslos: | |
„Ständig versuche ich mich der neuen Situation in Ungarn anzupassen, obwohl | |
ich oft einfach nur wegrennen möchte.“ Die Regierung könne schließlich | |
machen, was sie wolle, niemand schreite ein. Trotzdem versuchen Krisztina | |
und die NGO weiterhin Akteur*innen auf EU- und UN-Ebene auf die | |
Situation in Ungarn aufmerksam zu machen. Mit den aktuellen Plänen der | |
Regierung, so befürchtet Krisztina, werde die Gewalt gegen queere Menschen | |
zunehmen. „Ich weiß nicht mehr, wie ich als Aktivist*in weiterarbeiten oder | |
wie die Situation noch beeinflusst werden kann.“ | |
30 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://lmbtszovetseg.hu/sites/default/files/mezo/file/lmbtszov_research2019… | |
[2] https://www.theguardian.com/world/2020/apr/02/hungary-to-end-legal-recognit… | |
[3] /Ungarns-autoritaere-Staatsumbildung/!5673611 | |
[4] https://www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/ungarn-orban-ermaechtigung… | |
[5] https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-in-ungarn-notstand-im-schatten-… | |
[6] https://www.theguardian.com/world/2020/apr/26/hungary-prepares-to-end-legal… | |
[7] https://www.queer.de/detail.php?article_id=35902 | |
[8] https://www.queer.de/detail.php?article_id=18760 | |
[9] /Ungarn-schafft-Geschlechterforschung-ab/!5543755 | |
## AUTOREN | |
Steven Meyer | |
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